Sterben: Roman (German Edition)
war, die Kräfte in mir, die etwas anderes sagten, logen. Und das galt nicht nur für den Menschen, der er in meiner Kindheit gewesen war, sondern auch für den Menschen, zu dem er später wurde, als er mitten im Leben aus allen alten Zusammenhängen ausbrach und von vorne anfing. Denn er hatte sich verändert, auch in seiner Annäherung an mich, aber das nützte ihm nichts, denn mit dem Menschen, zu dem er wurde, wollte ich auch nichts zu tun haben. In jenem Frühjahr, in dem er ausbrach, hatte er angefangen zu trinken, und den Sommer über machte er weiter, es war alles, was die beiden taten, Vater und Unni, sie saßen in der Sonne und tranken an langen, schönen, betrunkenen Tagen, und als das neue Schuljahr begann, ging es so weiter, allerdings nur nachmittags und abends und an den Wochenenden. Sie zogen nach Nordnorwegen und arbeiteten dort gemeinsam an einer Schule, und damals ahnten wir allmählich, was mit ihm los war, denn als wir einmal mit dem Flugzeug kamen, um sie zu besuchen, Yngve, seine Freundin und ich, holte Vater uns mit dem Auto ab, war aber blass, und seine Hände zitterten, und er sagte fast nichts, und als wir in ihre Wohnung kamen, leerte er in der Küche hintereinander drei Flaschen Bier und erwachte dadurch zum Leben, zitterte nicht mehr, nahm uns wahr, begann zu reden, trank weiter. An diesen Tagen, in den Weihnachtsferien, trank er die ganze Zeit, betonte jedoch, es seien schließlich Ferien, da könne man ruhig mal einen heben, vor allem hier oben, wo es den ganzen Winter über so dunkel war. Unni war damals schwanger, so dass er alleine trank. In dem Frühjahr war er Prüfer an einer Schule in der Gegend von Kristiansand, und er hatte Yngve, seine Freundin und mich zum Essen in ein Hotel eingeladen, das Caledonien, aber als wir im Foyer standen, wo wir uns mit ihm treffen sollten, kam er nicht, und wir warteten eine halbe Stunde und fragten schließlich die Rezeptionistin, die meinte, er sei auf seinem Zimmer, wir gingen hinauf, klopften an die Tür, keine Reaktion, er schien zu schlafen, wir klopften fester und riefen seinen Namen, aber nichts, und wir verließen das Hotel unverrichteter Dinge. Zwei Tage später brannte das Caledonien nieder, zwölf Menschen kamen ums Leben, ich ging in die zweite Klasse des Gymnasiums und fuhr in der Essenspause mit Bassen hin und sah bei den Löscharbeiten zu. Hätte sich mein Vater in seinem Zustand darin aufgehalten, wäre er unter den Opfern gewesen, soviel stand fest, sagte ich zu Bassen, aber noch begriffen weder Yngve noch ich, was wirklich mit ihm geschah, denn uns fehlte jegliche Erfahrung mit Alkoholikern, in unserer Familie gab es keine, und obwohl wir begriffen, dass er trank, denn wir hatten im Laufe der Zeit viele feuchtfröhliche Nächte erlebt, die sich in Tränen, Streit und Eifersucht aufgelöst hatten und in denen jegliche Würde verloren gegangen war, wenn auch nur für kurze Zeit, am nächsten Morgen war sie wieder da, denn seine Arbeit schaffte er immer, worauf er stolz war, begriffen wir doch nicht, dass er nicht aufhören konnte und vielleicht auch gar nicht wollte. Das war nun sein Leben, das war es, womit er sich beschäftigte, obwohl das Kind zur Welt gekommen war. Wenn er an manchen Morgen zur Arbeit wollte, mochte er zwar einen Kater haben, aber betrunken erschien er dort nie, ein, zwei Bier im Tagesverlauf zeigten keine Wirkung, man sehe sich nur die Dänen an, die trinken beim Mittagessen, und Dänemark geht es doch gut, nicht wahr?
Im Winter reisten sie immer in den Süden und beschwerten sich bei den Reiseleitern, wie ich einem Brief entnehmen konnte, den ich einmal heimlich las, als ich bei ihnen war. Die Sache hatte damit angefangen, dass Vater kollabiert war und mit einer Ambulanz ins Krankenhaus gebracht werden musste, weil er starke Schmerzen in der Brust hatte. Hinterher hatte er den Reiseveranstalter verklagt, weil er der Meinung war, dass die Art, wie man ihn dort behandelt hatte, der Auslöser für seinen Herzinfarkt gewesen war, woraufhin das Reiseunternehmen einigermaßen nüchtern antwortete, es habe sich nicht um einen Herzinfarkt gehandelt, sondern um einen Kreislaufkollaps in Folge des Alkoholkonsums und der Einnahme von Medikamenten.
Später verließen sie Nordnorwegen und zogen nach Südnorwegen zurück, wo Vater, inzwischen fett und aufgedunsen, mit einem riesigen Bauch, unablässig trank. Dass er ein paar Stunden nüchtern blieb, um uns mit dem Auto abholen zu können, war mittlerweile undenkbar.
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