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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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dann von ihnen, was war ihr Leben wert gewesen? Gähnende Kiefer und leere Augenhöhlen irgendwo unter der Erde?
    Vielleicht würde ja wirklich der Tag des Jüngsten Gerichts kommen und all diese Knochengerüste und Schädel, diese Menschen, die im Laufe der Jahrtausende auf unserer Erde gelebt hatten, würden ihre klappernden Knochen einsammeln, aufstehen und in die Sonne blinzeln und zu Gott hinaufschauen, der allmächtig und gewaltig, mit einer Wand aus Engeln über und unter sich, am Himmel thronend über sie richten sollte. Über der grünen und herrlichen Erde erklängen die Posaunen, und von allen Wiesen und Tälern, allen Ufern und Ebenen, allen Meeren und Wassern erhöben sich die Toten und gingen zu Gott, dem Herrn, würden zu ihm gehen, gerichtet und in die Flammen der Hölle gestürzt, gerichtet und zum Licht des Himmels erhoben werden. Auch alle, die hier unterwegs waren mit ihren Trolleys und Taxfree-Tüten, ihren Taschenbüchern und Bankkarten, ihren parfümierten Achselhöhlen und Brillen, ihren gefärbten Haaren und Rollatoren, würden dann zu neuem Leben erweckt werden, und ein Unterschied zwischen ihnen und den Menschen, die im Mittelalter oder in der Steinzeit gestorben waren, ließe sich nicht erkennen, denn sie waren die Toten, und die Toten sind die Toten, und die Toten würden am Tag des Jüngsten Gerichts gerichtet werden.
    Aus dem innersten Teil der Halle, wo sich die Gepäckbänder befanden, näherte sich eine Gruppe von etwa zwanzig Japanern. Ich legte die rauchende Zigarette auf den Aschenbecher, trank einen Schluck Kaffee und folgte ihnen mit den Augen. Ihre Fremdartigkeit, die nicht von ihrer Kleidung oder dem Aussehen herrührte, sondern allein mit ihrem Verhalten zusammenhing, zog mich an, und in Japan zu leben, umgeben von dieser Fremdartigkeit und all dem, was man sah, aber nicht verstand, dessen Bedeutung man eventuell erahnte, ohne ihrer jemals sicher sein zu können, war etwas, wovon ich seit langem geträumt hatte. In einem japanischen Haus zu sitzen, spartanisch und schlicht, mit Schiebetüren und Papierwänden, die für eine Zurückhaltung bestimmt waren, die mir und meinem nordeuropäischen Ungestüm zutiefst fremd war, wäre fantastisch. Dort zu sitzen, einen Roman zu schreiben und zu sehen, wie die Umgebung langsam und unmerklich das Geschriebene formte, denn unser Denken ist natürlich ebenso eng verbunden mit der konkreten Umgebung, von der wir ein Teil sind, wie mit den Menschen, mit denen wir sprechen, und den Büchern, die wir lesen. Japan, aber auch Argentinien, wo das Europäische und Vertraute eine ganz andere Färbung angenommen hatte, sich an einen völlig anderen Ort begeben hatte, und die USA , in einer der kleinen Städte oben in Maine beispielsweise, mit ihrer südnorwegischen Natur, was mochte dort alles entstehen?
    Ich stellte die Tasse ab und griff erneut nach der Zigarette, drehte mich auf dem Stuhl um und schaute zum Gate hinüber, wo bereits eine ganze Reihe von Reisenden saß, obwohl es erst ein paar Minuten vor fünf war.
    Doch jetzt stand Bergen auf der Tagesordnung.
    Ein eiskalter Windstoß durchwehte mich.
    Vater ist tot.

Zum ersten Mal seit Yngves Anruf sah ich ihn vor mir. Nicht den Mann, der er in den letzten Jahren war, sondern den Menschen, der er in meiner Kindheit gewesen war, als wir ihn zur Seeseite der Insel Tromøya begleiteten, um im Winter fischen zu gehen, als uns der Wind um die Ohren pfiff und die Gischt von den gewaltigen, grauen Wellen, die an den Felsen unter uns zerschellten, in der Luft hing und er mit der Angel in der Hand neben uns stand und die Schnur einholte, während er uns anlachte. Dichte, schwarze Haare, ein schwarzer Bart, das leicht asymmetrische Gesicht von kleinen Wassertropfen bedeckt. Blaue Öljacke, grüne Gummistiefel.
    Das war das Bild.
    Typisch, dass ich ihn in einer jener Situationen vor mir sah, in denen er gut war. Dass mein Unterbewusstsein eine Szene auswählte, in der ich warme Gefühle für ihn hegte. Es war der Versuch einer Manipulation, deren Ziel es offenkundig war, der Sentimentalität des Irrationalen den Weg zu ebnen, die, sobald Tür und Tor geöffnet waren, vollkommen ungehemmt aufwallen und Besitz von mir ergreifen würde. So arbeitete das Unterbewusstsein, es sah sich wahrscheinlich als eine Art Korrektiv zum Denken und Wollen und unterstützte alles, was möglicherweise in Opposition zur herrschenden Vernunft stand. Aber Vater hatte bekommen, was er verdient hatte, es war gut, dass er tot

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