Sterben: Roman (German Edition)
haben.«
»Okay. Dann haue ich jetzt ab.«
Er warf die Zigarette weg und zog die Autoschlüssel aus der Tasche. Ich stand auf und trat einen Schritt näher, jedoch nicht so nahe, dass daraus eine Situation mit einem Händedruck oder einer Umarmung hätte entstehen können. Er schloss die Tür auf, setzte sich hinein und schaute zu mir hoch, als er den Schlüssel im Zündschloss drehte und den Motor anließ.
»Mach’s gut, bis bald«, sagte er.
»Mach’s gut. Fahr vorsichtig. Und grüß alle zu Hause!«
Er schlug die Tür zu, setzte zurück, bremste und schnallte sich an, legte den Gang ein und fuhr langsam Richtung Straße. Ich nahm den gleichen Weg. Plötzlich leuchteten die Rücklichter auf, und er setzte zurück.
»Das nimmst besser du an dich«, meinte er und streckte die Hand aus dem heruntergekurbelten Fenster. Es war der braune Umschlag, den der Bestatter uns gegeben hatte.
»Es hat keinen Sinn, dass ich ihn nach Stavanger mitnehme«, erklärte er. »Besser, er ist hier. Okay?«
»Okay«, sagte ich.
»Dann bis bald«, sagte er. Das Fenster glitt zu, und die Musik, die in den letzten Sekunden über den Parkplatz geschallt hatte, wirkte plötzlich, als erklänge sie unter Wasser. Ich rührte mich erst von der Stelle, als der Wagen auf die Hauptstraße bog und verschwand. Es war ein Impuls aus meiner Kindheit; wenn ich mich bewegte, würde mich ein Unglück ereilen. Dann steckte ich den Umschlag in die Innentasche meiner Jacke und ging Richtung Stadt.
Drei Tage zuvor, gegen zwei Uhr nachmittags, hatte Yngve mich angerufen. Ich hörte seiner Stimme sofort an, dass etwas passiert war, und mein erster Gedanke lautete, jetzt ist Vater gestorben.
»Hallo«, sagte er. »Ich bin’s. Ich rufe an, um dir zu sagen, dass etwas passiert ist. Ja … es ist etwas passiert …«
»Ja?«, sagte ich und stand, eine Hand gegen die Wand gestützt, in der anderen den Hörer, im Flur.
»Vater ist tot.«
»Oh«, sagte ich.
»Gunnar hat gerade angerufen. Großmutter hat ihn heute früh im Sessel gefunden.«
»Woran ist er gestorben?«
»Keine Ahnung. Ich denke, es war das Herz.«
Der Flur war fensterlos und die Lampe an der Decke nicht an, aus der Küche am einen Ende und aus der offenen Schlafzimmertür am anderen fiel nur gedämpftes Licht herein. Das Gesicht in dem Spiegelbild, das ich anstarrte, war dunkel und sah mich von einem Ort in weiter Ferne an.
»Und was machen wir jetzt? Ganz konkret, meine ich?«
»Gunnar erwartet von uns, dass wir uns um alles kümmern. Also werden wir wohl hinfahren müssen. Im Grunde wohl möglichst bald.«
»Ja«, sagte ich. »Ich war eigentlich auf dem Sprung zu Borghilds Beerdigung, ehrlich gesagt wollte ich gerade los. Der Koffer ist also schon gepackt. Ich könnte sofort losfahren. Sollen wir uns da unten treffen?«
»Können wir machen«, erwiderte Yngve. »Ich komme dann morgen.«
»Morgen«, sagte ich. »Lass mich mal kurz überlegen.«
»Warum fliegst du nicht zu uns, und wir fahren zusammen?«
»Gute Idee. So machen wir es. Ich ruf dich wieder an, sobald ich weiß, mit welchem Flugzeug ich komme. Okay?«
»Okay. Bis dahin.«
Als ich aufgelegt hatte, ging ich in die Küche und füllte den Wasserkocher, holte einen Teebeutel aus dem Schrank und legte ihn in eine saubere Tasse, lehnte mich an die Arbeitsplatte und blickte die Sackgasse hinauf, die am Haus vorbeiführte, ansatzweise sichtbar als grauer Fleck zwischen grünen Sträuchern, die vom Ende des kleinen Gartens bis zum Straßenrand ein dichtes Gebüsch bildeten. Auf der anderen Seite ragten einige große Laubbäume in die Höhe, im Dunkel unter ihnen führte eine kleine Stichstraße zur Hauptstraße, an der das Haukeland-Krankenhaus thronte. Mir gelang nur zu denken, dass es mir nicht gelang zu denken, woran ich denken sollte. Dass ich nicht fühlte, was ich fühlen sollte. Vater ist tot, dachte ich, das ist ein großes und wichtiges Ereignis, es sollte mich völlig ausfüllen, aber das tut es nicht, denn hier stehe ich und schaue den Wasserkocher an und ärgere mich, weil das Wasser noch nicht kocht. Hier stehe ich und schaue hinaus und denke daran, welch ein Glück wir mit dieser Wohnung hatten, wie ich es immer tue, wenn ich den Garten sehe, weil die alte Vermieterin ihn pflegt, und nicht daran, dass Vater tot ist, obwohl das als Einziges von Bedeutung ist. Es muss eine Art Schock sein, überlegte ich, und goss das Wasser in die Tasse, obwohl es noch nicht gekocht hatte. Den Wasserkocher, ein glänzendes
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