Sterben: Roman (German Edition)
wurde es für Vanja nicht unbedingt leichter. Ich wünschte, ich könnte von mir sagen, dass ich mich damals ruhig und vernünftig verhalten hätte, aber so war es leider nicht, denn auch meine Wut und Gefühle wurden in diesen Situationen freigesetzt, die dadurch noch eskalierten und das nicht selten in aller Öffentlichkeit: Es kam vor, dass ich sie außer mir vor Wut hochriss, wenn sie in einer Stockholmer Einkaufspassage auf dem Boden lag, sie mir wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter warf und durch die Stadt trug, während sie wie eine Besessene trat und schlug und heulte. Es kam auch vor, dass ich ihren Tränen begegnete, indem ich sie anschrie, auf ihr Bett warf und festhielt, bis es aufgab, was sie ritt. Sie war noch nicht sonderlich alt, als sie herausfand, was mich zur Weißglut reizte, eine bestimmte Art von Schrei, kein Heulen oder Schluchzen oder Hysterie, sondern situationsunabhängige, zielgerichtete, aggressive Schreie, die mich gelegentlich jegliche Selbstbeherrschung verlieren, aufspringen und zu dem armen Mädchen laufen ließen, das angeschrien oder geschüttelt wurde, bis seine Schreie in Tränen übergingen und ihr Körper erschlaffte und sie sich endlich trösten lassen konnte.
Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, dass sie, als knapp Zweijährige, so unser ganzes Leben zu prägen vermochte. Denn so war es, eine Zeit lang drehte sich alles nur noch darum. Linda und ich leben am Rande des Chaos oder des Gefühls von Chaos, alles kann jederzeit ins Unklare rutschen, und zu allem, was das Zusammenleben mit kleinen Kindern erfordert, müssen wir uns zwingen. Planung ist für uns ein Fremdwort. Dass wir für die Mahlzeiten einkaufen gehen müssen, überrascht uns täglich aufs Neue. Dass am Ende jedes Monats Rechnungen bezahlt werden müssen, ebenfalls. Würden nicht diverse Instanzen in unregelmäßigen Abständen Geld auf mein Konto überweisen, zum Beispiel Honorare für Auslandslizenzen und aus Buchclubverkäufen oder ein paar Kronen aus einer Schulbuchausgabe, oder, wie im Herbst, die zweite Rate eines Auslandshonorars, das ich völlig vergessen hatte, würde die Sache gründlich schiefgehen. Doch diese ständigen Improvisationen erhöhen die Bedeutung des Augenblicks, der so natürlich extrem lebendig wird, da nichts in ihm selbstverständlich ist, und empfindet man das Dasein daraufhin als unbeschwert, was es natürlich auch sein kann, ist die Präsenz enorm und die Freude entsprechend groß. Oh, dann strahlen wir. Alle Kinder sind voller Leben und finden ganz natürlich den Weg zur Freude, und wenn man etwas überschüssige Energie hat und sie zu nehmen weiß, vergessen sie ihren Trotz oder ihre Wut binnen weniger Minuten. Leider nützt mir die Erkenntnis, dass man sie nur zu nehmen wissen muss, überhaupt nichts, wenn ich mittendrin bin, hineingesogen in einen Sumpf aus Tränen und Frustration. Und stecke ich erst einmal in diesem Sumpf, führt jede neue Handlung nur dazu, dass ich noch eine Drehung tiefer hineingebohrt werde. Und mindestens genauso schlimm ist es zu wissen, dass ich es mit Kindern zu tun habe. Dass es Kinder sind, die mich hinunterziehen. Das hat etwas zutiefst Entwürdigendes. In Situationen wie diesen bin ich so weit von dem Menschen entfernt, der ich sein möchte, wie es nur geht. Nichts von all dem ahnte ich, bevor ich Kinder bekam. Damals dachte ich, es würde schon alles klappen, wenn ich nur gut zu ihnen sein würde. Und so ist es wohl im Grunde auch, aber nichts von all dem, was ich bis dahin gesehen hatte, warnte mich vor der Invasion des eigenen Lebens, die mit Kindern einhergeht. Die ungeheure Nähe, die zu ihnen entsteht, wie das eigene Temperament und die eigenen Launen mit ihrem Temperament und ihren Launen verwoben werden, und zwar so, dass man seine schlechtesten Seiten nicht mehr für sich behalten, verbergen kann, sondern sie irgendwie außerhalb von einem Gestalt annehmen und zurückgeschleudert werden. Das Gleiche gilt natürlich auch für die besten Seiten. Denn abgesehen von den hektischsten Phasen, als erst Heidi und dann John geboren wurde und das Gefühlsleben aller, die es miterlebten, sich in einer Weise verschob, für die es keine bessere Bezeichnung als das Wort Krise gibt, ist ihr Leben hier im Grunde stabil und übersichtlich, und obwohl sie mich manchmal in den Wahnsinn treiben, fühlen sie sich dennoch bei mir geborgen und suchen meine Nähe, falls sie welche brauchen. Wenn die ganze Familie gemeinsam etwas unternimmt, ist das
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