Sterben: Roman (German Edition)
mir steht, dass die Straßen draußen still sind und im Haus kein Mucks zu hören ist, freudig strahlend, weil sie einen neuen Tag in Angriff nimmt, und ich mit einer Willensanstrengung auf die Beine komme, in die Kleider vom Vortag schlüpfe und ihr in die Küche folge, wo sie diese vermaledeite Sauermilch mit Blaubeergeschmack und das zuckerfreie Müsli erwarten, empfinde ich keine Zärtlichkeit, und wenn sie dann meine Geduld überstrapaziert, zum Beispiel, indem sie immer weiter um einen Film bettelt oder versucht, in das Zimmer zu kommen, in dem John schläft, kurzum, jedesmal, wenn sie ein Nein nicht als Nein akzeptiert, sondern es immer wieder aufs Neue versucht, endet es nicht selten damit, dass meine Gereiztheit sich zu Wut steigert, und wenn ich dann laut werde und sie in Tränen ausbricht und den Kopf senkt und sich mit hängenden Schultern wegdreht, denke ich, dass es ihr recht geschieht. Denn die Einsicht, dass sie erst zwei ist, stellt sich erst abends ein, wenn die Kinder schlafen und ich noch auf bin und darüber nachdenke, was ich hier eigentlich mache. Doch in dem Moment bin ich außerhalb des Ganzen. Innerhalb habe ich dazu keine Chance. Innerhalb geht es darum, den Morgen zu überstehen, die drei Stunden mit Windeln, die gewechselt, Kleidern, die angezogen, dem Frühstück, das gemacht, Gesichtern, die gewaschen, Haaren, die gekämmt und hochgesteckt werden müssen, Zähnen, die geputzt werden sollen, Streit, der abgewendet werden muss, Schlägen, die verhindert, Overalls und Stiefel, die angezogen werden sollen, bis ich, den zusammenklappbaren Doppelbuggy in der einen Hand haltend, die beiden kleinen Mädchen mit der anderen vor mir herschiebend, den Aufzug betrete, in dem es auf dem Weg nach unten nicht selten zu Knuffen und Theater kommt, bis ich sie im Eingangsflur in den Buggy bugsiere, ihnen Mützen und Handschuhe anziehe und sie auf die Straße hinausfahre, die bereits voller Menschen auf dem Weg zur Arbeit ist, um sie zehn Minuten später in der Kita abzuliefern, damit ich die nächsten fünf Stunden frei habe, um zu arbeiten, bis die für Kinder erforderlichen Abläufe von Neuem anlaufen.
Es war mir immer schon sehr wichtig, für mich zu sein, ich benötige große Flächen des Alleinseins, und wenn ich diese wie in den letzten fünf Jahren nicht bekomme, nimmt meine Frustration zuweilen beinahe panische oder aggressive Formen an. Und wenn das, was mich während meines gesamten Lebens als Erwachsener angetrieben hat, der Ehrgeiz, einmal etwas Einzigartiges zu schreiben, in dieser Weise bedroht wird, ist mein einziger Gedanke, der wie eine Ratte an mir nagt, mich aus dem Staub zu machen. Dass mir die Zeit davonläuft, wie Sand zwischen meinen Fingern zerrinnt, während ich … tja, was mache ich eigentlich? Putzen, Waschen, Essen kochen, spülen, einkaufen, mit den Kindern auf dem Spielplatz tollen, sie hereinholen und ausziehen, sie baden, sie beaufsichtigen, bis sie ins Bett müssen, sie zu Bett bringen, Kleider zum Trocknen aufhängen, Kleider zusammenfalten und in Schränke legen, aufräumen, Tische, Stühle, Schränke abwischen. Es ist ein Kampf, und auch wenn er nicht heroisch ist, wird er doch gegen eine Übermacht ausgefochten, denn egal, wie viel ich zu Hause arbeite, die Zimmer sind trotzdem von Schmutz und Müll übersät, und die Kinder, die in jeder Minute ihrer wachen Zeit betreut werden müssen, sind trotziger, als ich andere Kinder jemals gesehen habe, phasenweise ist das hier das reinste Tollhaus, vielleicht, weil es uns niemals gelungen ist, die notwendige Balance zwischen Distanz und Nähe zu finden, die umso wichtiger zu sein scheint, je mehr Temperament im Spiel ist. Und davon gibt es hier genug. Als Vanja etwa acht Monate alt war, fing sie an, heftige, manchmal fast anfallartige Wutanfälle zu bekommen, während derer sie eine Weile praktisch nicht ansprechbar war und einfach immer weiterschrie. Uns blieb nichts anderes übrig, als sie festzuhalten, bis es vorbei war. Woher das kam, ist schwer zu sagen, aber es passierte häufig, wenn sie mit vielen neuen Eindrücken konfrontiert gewesen war, zum Beispiel, wenn wir zu ihrer Großmutter auf dem Land in der Nähe Stockholms gereist waren oder sie viel Zeit mit anderen Kindern verbracht hatte oder wir einen ganzen Tag in der Stadt gewesen waren. Völlig außer sich stand sie dann da und schrie, untröstlich, aus vollem Hals. Empfindsamkeit und Willensstärke sind keine einfache Kombination. Als Heidi auf die Welt kam,
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