Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
je erreichen ließe. Das war schlimmer als Impotenz, denn es machte mich nicht nur handlungsunfähig, sondern war außerdem grotesk. Aber konnte ich Gott im Gebet darum bitten, dass es aufhören möge? Ja, am Ende konnte ich Gott auch darum bitten. Lieber Gott, betete ich. Lieber Gott, mach, dass sich mein Geschlechtsorgan begradigt, wenn es sich mit Blut füllt. Ich bitte dich darum nur ein Mal. Also tu mir bitte den Gefallen und lass meinen Wunsch in Erfüllung gehen.
    Als ich dann ins Gymnasium kam, wurden alle Erstklässler eines Morgens in der Gimle-Halle auf der Tribüne versammelt, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, aber einer der Lehrer, ein in Kristiansand berüchtigter Nudist, der sein Haus, erzählte man sich, in einem Sommer nur mit einer Krawatte bekleidet gestrichen hatte, und ansonsten nachlässig, provinzbohemienartig gekleidet war und weiße, lockig zerzauste Haare hatte, las uns ein Gedicht vor, ging an den Reihen der Tribüne entlang und deklamierte und besang plötzlich, zur allgemeinen Erheiterung, den Schwanz, der sich schräg aufrichtete.
    Ich lachte nicht. Ich glaube, mir fiel die Kinnlade herunter, als ich die Worte hörte. Mit offenem Mund und leeren Augen saß ich da, während die Erkenntnis in mir langsam Gestalt annahm. Alle Ständer sind schräg. Und wenn schon nicht alle, dann doch immerhin so viele, dass dies in einem Gedicht besungen werden konnte.
    Woher kam das Groteske? Nur zwei Jahre vorher, als wir hergezogen waren, war ich ein kleiner Dreizehnjähriger mit glatter Haut gewesen, der kein R sprechen konnte und mehr als zufrieden war, an seinem neuen Wohnort, an dem mich vorläufig noch niemand auf dem Kieker hatte, schwimmen zu gehen und radzufahren und Fußball zu spielen. Im Gegenteil, an den ersten Schultagen wollten alle mit mir reden, ein neuer Schüler war dort ein seltenes Phänomen, alle fragten sich natürlich, wer ich war und was ich konnte. An den Nachmittagen und Wochenenden kamen manchmal Mädchen den ganzen weiten Weg von Hamresanden mit dem Fahrrad, nur um mich zu treffen. Ich spielte Fußball mit Per, Trygve, Tom und William, und dann kam jemand auf der Straße angeradelt, zwei Mädchen, wo wollten sie hin? Unser Haus war das letzte, dahinter gab es nur Wald, dann zwei weitere Höfe, dahinter Wald, Wald und nochmal Wald. Sie sprangen von ihren Fahrrädern, schauten zu uns herüber, verschwanden hinter den Bäumen. Kamen bergab radelnd wieder näher, hielten, spähten zu uns herüber.
    »Was wollen die?«, sagte Trygve.
    »Die sind gekommen, um sich Karl Ove anzusehen«, antwortete Per.
    »Das soll ja wohl ein Witz sein«, sagte Trygve. »Die sind doch nicht deshalb den weiten Weg von Hamresanden gekommen. Das sind zehn Kilometer!«
    »Warum sollten sie sonst hier hochkommen? Jedenfalls sind sie bestimmt nicht gekommen, um dich anzusehen«, erwiderte Per. »Du bist ja immer schon hier gewesen.«
    Wir betrachteten die beiden, die sich einen Weg durch die Sträucher bahnten. Die eine trug eine rosa Jacke, die andere eine hellblaue. Große Haarmähnen.
    »Ach, was soll’s«, sagte Trygve. »Kommt, wir spielen.«
    Und so spielten wir weiter auf unserer Landzunge im Fluss, wo der Vater von Per und Tom zwei Tore gezimmert hatte. Als die Mädchen den Schilfgürtel erreichten, der hundert Meter hinter uns lag, blieben sie stehen. Ich wusste, wer sie waren, aber sie waren nicht besonders hübsch, also ignorierte ich sie, und nachdem sie etwa zehn Minuten dort hinten im Schilf gestanden hatten wie seltsame Vögel, kehrten sie um und radelten heim. Ein anderes Mal, eine Woche später, kamen drei Mädchen zu uns herauf, als wir in der großen Lagerhalle der Parkettfabrik waren und jobbten. Wir stapelten kleine Bretterenden auf Paletten, jede Lage durch Latten getrennt, es war Akkordarbeit, und als ich lernte, jedesmal einen Armvoll so auszuwerfen, dass sie sich von selbst nebeneinander legten, sprang dabei tatsächlich ein bisschen Geld heraus. Wir konnten kommen und gehen, wie wir wollten, so dass wir oft auf dem Heimweg von der Schule vorbeischauten und eine Palette machten, nach Hause gingen und aßen, zurückkehrten und für den restlichen Abend blieben. Wir waren so geldgierig, dass wir am liebsten jeden Abend und an allen Wochenenden gearbeitet hätten, aber oft gab es keine Arbeit für uns, entweder weil wir das Lager vollgestapelt hatten oder weil die Fabrikarbeiter selbst in ihrer normalen Arbeitszeit tätig geworden waren. Pers Vater arbeitete in der

Weitere Kostenlose Bücher