Sterben: Roman (German Edition)
sanftes Lächeln, das ich bewunderte und unendlich attraktiv fand, zum einen, weil es mich oder Leute wie mich nicht einschloss, sondern Teil ihres innersten Wesens war, an dem nur sie und ihre Freunde Anteil hatten, und zum anderen, weil ihre Oberlippe sich dabei eine Spur verzog. Sie ging in die Klasse unter mir, und im Laufe der zwei Jahre, die ich diese Schule besuchte, wechselte ich kein einziges Wort mit ihr. Stattdessen ging ich mit ihrer Cousine Susanne. Sie war in der Parallelklasse und wohnte in einem Haus auf der anderen Seite des Flusses. Sie hatte eine spitze Nase, einen kleinen Mund und etwas hasenartige Schneidezähne, aber ihre Brüste waren üppig und hübsch, die Hüften von perfekter Breite und die Augen herausfordernd, irgendwie war ihnen immer klar, was sie wollten. Es ging oft darum, sich mit anderen zu messen. Während Inger in all ihrer Unnahbarkeit voller Geheimnisse und Mystik war und ihre Anziehungskraft fast ausschließlich darauf beruhte, was ich nicht wusste, nur ahnte oder mir erträumte, war Susanne eher eine Ebenbürtige, Gleichgesinnte. Ihr gegenüber hatte ich weniger zu verlieren, weniger zu fürchten, allerdings auch weniger zu gewinnen. Ich war vierzehn, sie war fünfzehn, und im Laufe weniger Tage kamen wir zusammen, wie es in diesem Alter eben manchmal so ist. Kurze Zeit später ging Jan Vidar dann mit ihrer Freundin Margarethe. Unsere Beziehungen spielten sich an einem Ort zwischen Kinder- und Jugendwelt ab, und die Grenzen zwischen beiden waren fließend. Morgens im Schulbus saßen wir zusammen, wenn die ganze Schule bei der freitäglichen Morgenversammlung anwesend war, saßen wir zusammen, wir radelten gemeinsam zum Konfirmationsunterricht, der einmal in der Woche in der Kirche stattfand, und wir hingen hinterher gemeinsam an einer Straßenkreuzung oder auf dem Parkplatz vor dem Geschäft herum, alles Situationen, in denen die Unterschiede zwischen uns heruntergespielt wurden und Susanne und Margarethe eine Art Schulkameraden waren. An den Wochenenden war das jedoch anders, denn dann gingen wir in der Stadt ins Kino oder saßen in irgendeinem Partykeller und aßen Pizza und tranken Cola, während wir eng umschlungen fernsahen oder Musik hörten. Dann rückte näher, woran alle dachten. Was nur ein paar Wochen zuvor ein Riesenschritt gewesen war, der Kuss, angesichts dessen Jan Vidar und ich verschiedene Vorgehensweisen diskutiert hatten, praktische Details, zum Beispiel, ob man sich besser links oder rechts von ihr setzte, was wir sagen konnten, um den Prozess einzuleiten, der zum Kuss führen sollte, oder ob es womöglich besser wäre, es zu tun, ohne ein Wort zu sagen, war längst erreicht und inzwischen fast mechanisch festgelegt worden; nachdem wir Pizza oder Lasagne gegessen hatten, saßen die Mädchen auf unserem Schoß, und wir begannen zu knutschen. Ab und zu legten wir uns auch auf die Couch, ein Paar auf jeder Seite, wenn wir uns sicher waren, dass niemand kommen würde.
Eines Freitagabends war Susanne alleine zu Hause. Jan Vidar radelte am Nachmittag zu mir herauf, und von uns aus gingen wir am Fluss entlang bergaufwärts, überquerten die schmale Fußgängerbrücke und erreichten das Haus, in dem sie wohnte und die beiden uns nun erwarteten. Ihre Eltern hatten Pizza gebacken, wir aßen sie, Susanne setzte sich auf meinen Schoß, Margarethe auf Jan Vidars, die Stereoanlage spielte Dire Straits’ Telegraph Road , und wir knutschten so lange im Wohnzimmer, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Ich liebe dich, Karl Ove , flüsterte sie mir schließlich ins Ohr. Sollen wir in mein Zimmer gehen? Ich nickte, und wir standen auf und hielten uns an den Händen.
»Wir gehen in mein Zimmer«, sagte sie zu den beiden anderen. »Dann habt ihr hier ein bisschen eure Ruhe.«
Sie blickten zu uns auf und nickten. Dann küssten sie sich weiter. Die langen schwarzen Haare Margarethes bedeckten fast vollständig Jan Vidars Gesicht. Die Zungen kreisten und kreisten in ihren Mündern. Er strich ihr über den Rücken, auf und ab, saß ansonsten regungslos. Susanne lächelte mich an, drückte meine Hand fester und führte mich durch den Flur in ihr Zimmer. Dort war es dunkel und kälter. Ich war nicht das erste Mal dort und war gerne bei ihnen, obwohl ihre Eltern immer zu Hause gewesen waren und wir im Prinzip nichts anderes getan hatten als das, was Jan Vidar und ich sonst auch immer machten, will sagen zusammenzusitzen und uns zu unterhalten, ins Wohnzimmer zu gehen und mit den
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