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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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»Ich glaube, ich gehe sofort ins Bett.«
    »Tu das«, sagte sie. »Wir gehen auch gleich ins Bett.«
    Ich stand vier Meter von ihnen entfernt in einer fremden Jogginghose, einem fremden Collegesweater, mit meinen eigenen bekotzten Kleidern, die nach Suff stanken, in einer Plastiktüte. Trotzdem sahen sie es nicht.
    »Na dann, gute Nacht«, sagte ich.
    »Gute Nacht«, erwiderten sie.
    Damit war die Sache erledigt. Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber ich nahm das Geschenk dankbar an. Die Tüte mit den Kleidern versteckte ich im Schrank, und als ich das nächste Mal alleine zu Hause war, wusch ich die Klamotten in der Badewanne aus, hängte sie zum Trocknen in den Schrank in meinem Zimmer und legte sie anschließend wie üblich in den Wäschekorb.
    Nicht ein Wort von irgendwem.
    Das Trinken tat mir gut, es setzte Dinge in Gang. Und ich gelangte in etwas hinein, ein Gefühl von … nicht unbedingt von Unendlichkeit, aber doch von, tja, etwas Unerschöpflichem. Etwas, in das ich immer weiter hineingehen konnte. Das Gefühl war vollkommen klar und deutlich.
    Hindernislos. Das war es, wohin ich vorstieß, in einen hindernislosen Zustand.
    Deshalb war ich voller Vorfreude. Und obwohl es damals letztlich gutgegangen war, hatte ich diesmal ein paar Vorkehrungen getroffen. Ich würde Zahnbürste und Zahncreme mitnehmen und hatte Eukalyptuspastillen, Freshmint und Kaugummi gekauft. Außerdem würde ich ein zweites Hemd mitnehmen.
    Im Wohnzimmer unter mir ertönte die Stimme meines Vaters. Ich setzte mich auf, streckte die Arme über dem Kopf aus, bog sie nach hinten und reckte sie danach so weit, wie es eben ging, erst den einen, dann den anderen. Die Glieder schmerzten, sie hatten mir schon den ganzen Herbst über wehgetan. Ich wuchs. Auf dem Klassenfoto der neunten Klasse, im Spätfrühling aufgenommen, war ich von durchschnittlicher Größe gewesen. Nun näherte ich mich plötzlich einem Meter neunzig. Meine große Sorge war, dass dort nicht Schluss sein würde und ich einfach immer weiter wachsen könnte. In der Stufe über mir gab es einen, der fast zwei Meter zehn groß und dürr wie eine Bohnenstange war. Mehrmals täglich dachte ich mit Schrecken daran, dass ich so enden könnte wie er. Manchmal betete ich zu Gott, an den ich nicht glaubte, dass es nicht so kommen möge. Ich glaubte zwar nicht an Gott, aber ich hatte zu ihm gebetet, als ich klein war, und wenn ich es jetzt tat, kam es mir vor, als erwachte etwas von der Hoffnung des Kindes zum Leben. Lieber Gott, lass mich aufhören zu wachsen, flehte ich. Lass mich ein Meter neunzig groß werden, lass mich einen Meter einundneunzig oder zweiundneunzig groß werden, aber nicht mehr! Wenn du dafür sorgst, verspreche ich, so gut zu sein, wie ich nur kann. Lieber Gott, lieber Gott, hörst du mich?
    Oh, ich wusste, es war dumm, aber ich tat es trotzdem, denn die Furcht war nicht dumm, sie war bloß schmerzlich. Ein anderes, noch größeres Grauen zu jener Zeit stellte sich ein, als ich entdeckte, dass mein Schwanz schräg aufwärts zeigte, wenn ich einen Ständer hatte. Ich war missgebildet, er war verbogen, und unwissend, wie ich war, wusste ich nicht, ob man daran durch eine Operation etwas ändern könnte oder welche anderen Möglichkeiten es geben mochte. Nachts stand ich auf, ging ins Badezimmer hinunter und brachte ihn zum Stehen, um zu schauen, ob er sich verändert hatte. Aber nein, nie. Zum Teufel, er lag ja fast auf dem Bauch! Und war er nicht auch ein bisschen krumm? Krumm und schief wie eine verdammte Wurzel im Wald, was bedeutete, dass ich niemals mit jemandem schlafen können würde. Da dies jedoch im Grunde das Einzige war, was ich wirklich wollte oder wovon ich träumte, war meine Verzweiflung entsprechend groß. Mir kam natürlich der Gedanke, dass ich ihn nach unten ziehen könnte. Also versuchte ich es und presste ihn so fest hinab, wie ich konnte, bis es wehtat. Er wurde gerader. Aber es tat weh. Und man konnte ja wohl kaum so die Hand auf den Schwanz gelegt mit einem Mädchen schlafen? Was zum Teufel sollte ich tun? Konnte ich überhaupt etwas tun? Die Sache nagte an mir. Jedesmal, wenn ich einen Ständer hatte, wuchs meine Verzweiflung. Lag ich irgendwo auf einer Couch und knutschte mit einem Mädchen und hatte vielleicht auch die Finger unter ihren Pullover geschoben, und der Schwanz drückte steif wie ein Stock gegen das Hosenbein, wusste ich, dies war das Äußerste, was ich erreichen konnte, und es würde immer das Äußerste bleiben, was sich

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