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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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und ich trugen unsere Plastiktüten mit Bier und gingen neben den alltäglich gekleideten und leicht verpickelten Gesamtschülern, mit denen wir diesen Abend verbracht hatten. Das heißt, nicht wirklich neben ihnen. Für den Fall, dass wir jemandem begegneten, den ich aus der Schule kannte, war ich den anderen stets einen Schritt voraus. Ich tat so, als würde ich mich für dies und das interessieren, so dass die Leute, die uns sahen, unmöglich erkennen konnten, dass wir eigentlich zusammengehörten. Was wir im Grunde ja auch nicht taten. Ich sah gut aus, das Hemd war weiß, die Ärmel hochgeschlagen, wie es, das hatte Yngve mir im Herbst erzählt, sein sollte; über dem Jackett und der schwarzen, anzugähnlichen Hose trug ich einen grauen Mantel, die Füße steckten in meinen Doc-Martens-Schuhen, und um die Handgelenke hatte ich Lederriemen gebunden. Meine Haare waren im Nacken lang und auf dem Scheitel kurz, fast stoppelig. Der einzige Bruch war die Tüte mit Bier. Ihrer war ich mir deshalb schmerzlich bewusst. Sie war es auch, die mich mit der Lumpenbande verband, die hinter mir herwankte, denn Tragetaschen mit Bier hatten sie auch, alle.
    An der Straßenkreuzung, die auf einer Anhöhe lag und zu einem Sammelpunkt geworden war, weil man von dort aus die ganze Bucht überblicken konnte, herrschte Chaos. Die Leute standen dichtgedrängt, die meisten waren betrunken, und alle wollten Feuerwerkskörper anzünden. Überall knatterte und knallte es, Pulvergeruch stach einem in die Nase, Rauch trieb durch die Luft, und unter dem dicht bewölkten Himmel explodierte eine farbensprühende Rakete nach der anderen. Er erbebte vor Licht, als würde er jeden Moment bersten und sich öffnen.
    Wir blieben am Rande des Spektakels stehen. Øyvind, der Feuerwerkskörper dabeihatte, holte einen großen, dynamitartigen Klotz heraus und stellte ihn vor seinen Füßen ab. Er schwankte vor und zurück, während er mit dem Ding beschäftigt war. Jan Vidar redete in einem fort, wie er es immer tat, wenn er betrunken wurde, und um seine Lippen spielte konstant ein Lächeln. Momentan unterhielt er sich mit Rune. Sie hatten das Kickboxen als gemeinsames Interesse entdeckt. Seine Brille beschlug wieder, aber er scherte sich nicht mehr darum, sie abzunehmen und freizureiben. Ich stand einen Schritt von ihnen entfernt und ließ den Blick durch die Menschenmenge schweifen. Als der klotzförmige Feuerwerkskörper zum ersten Mal hochging und direkt neben mir ein rotes Licht explodierte, zuckte ich zusammen. Øyvind lachte voller Freude.
    »Das war gar nicht so übel!«, rief er. »Sollen wir noch einen anzünden?«, sagte er, setzte einen zweiten daneben, ohne eine Antwort abzuwarten, und zündete ihn an. Im nächsten Moment begann auch dieser Lichtkugeln auszuspucken, und die Tatsache, dass ein Rhythmus zwischen ihnen entstand, feuerte ihn so an, dass er mit fast fieberhafter Hast den dritten Klotz heraussuchte, um fertig zu sein, ehe der erste erlosch.
    »Hahaha!«, lachte er.
    Neben uns fiel ein Mann in einer hellblauen Jacke, einem weißen Hemd und einer roten Lederkrawatte in den Schneewall am Straßenrand. Eine Frau lief auf hohen Absätzen zu ihm und zog ihn am Arm, allerdings nicht kräftig genug, um ihn hochzuziehen, aber immerhin kräftig genug, um ihn anzuspornen, von selber wieder auf die Beine zu kommen. Er klopfte den Schnee von sich ab und sah dabei nach vorn, als hätte er nicht eben noch im Schnee gelegen, sondern wäre nur stehen geblieben, um sich einen besseren Überblick über die Situation zu verschaffen. Zwei Jungen standen auf dem Dach des Wartehäuschens und richteten ihre Raketen schräg nach vorn, zündeten sie an und hielten sie in den Händen, während sie rauschten und zischten, sie hatten die Köpfe weggebogen, bis sie die Raketen schließlich losließen und diese zwei Meter in die Höhe schossen und mit einer solchen Wucht und Kraft explodierten, dass sich alle Umstehenden zu ihnen umdrehten.
    »He, Jan Vidar«, sagte ich. »Kannst du mir die hier bitte auch aufmachen?«
    Er hebelte lächelnd den Kronkorken von der Flasche, die ich ihm reichte. Endlich spürte ich die Wirkung des Biers, aber nicht als Freude oder dunkle Schwere, eher wie eine rasch zunehmende Abstumpfung der Sinne. Ich trank, zündete mir eine Zigarette an, sah auf die Uhr. Zehn vor zwölf.
    »Noch zehn Minuten!«, sagte ich.
    Jan Vidar nickte, sprach weiter mit Rune. Ich hatte beschlossen, mich erst nach zwölf auf die Suche nach Irene zu machen.

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