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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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herausholte, mit den Zähnen öffnete und mir hinter die Binde kippte. Eine Zigarette steckte ich mir auch an. Das waren meine Instrumente, mit ihnen war ich gerüstet. Eine Kippe in der einen Hand, ein Bier in der anderen. So stand ich da und hob beides an den Mund, erst das eine, dann das andere. Die Kippe, das Bier, die Kippe, das Bier.
    Zehn nach schlug ich Jan Vidar auf den Rücken, sagte ihm, dass ich zu einer Bekannten gehen und bald zurück sein würde, warte hier, er nickte, und ich begann, mir einen Weg zu Irene hinauf zu bahnen. Erst sah sie mich nicht, da sie mir den Rücken zuwandte und sich mit ein paar Leuten unterhielt.
    »Hallo, Irene!«, sagte ich.
    Als sie sich nicht umdrehte, wahrscheinlich, weil meine Stimme sich zu wenig von dem uns umgebenden Lärm absetzte, sah ich mich genötigt, ihr auf die Schulter zu klopfen. Das war nicht gut, es war eine zu direkte Hinwendung, jemandem auf die Schulter zu klopfen ist etwas anderes als eine zufällige Begegnung, aber ich musste das Risiko eingehen.
    Jedenfalls drehte sie sich um.
    »Karl Ove«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
    »Wir sind in der Nähe auf einer Fete. Dann habe ich dich hier oben gesehen und dachte, ich wünsche dir ein frohes Neues. Frohes neues Jahr!«
    »Frohes neues Jahr!«, sagte sie. »Geht es dir gut?«
    »Ja, klar!«, sagte ich. »Und dir?«
    »Mir auch.«
    Es entstand eine kurze Pause.
    »Machst du eine Fete?«, sagte ich.
    »Ja.«
    »Hier in der Nähe?«
    »Ja, ich wohne da drüben.«
    Sie zeigte schräg nach oben.
    »In dem Haus da?«, sagte ich und nickte in die gleiche Richtung.
    »Nein, dahinter. Du kannst es von der Straße aus nicht sehen.«
    »Könnte ich vielleicht mitkommen?«, sagte ich. »Dann könnten wir noch was quatschen, nicht? Das wäre doch nett.«
    Sie schüttelte den Kopf, wobei sie ironisch die Nase rümpfte.
    »Ich denke nicht«, sagte sie. »Weißt du, das ist keine Klassenfete.«
    »Das weiß ich doch«, erwiderte ich. »Aber ich dachte halt, nur um zu quatschen? Sonst nichts. Ich bin nicht weit von hier auf einer Fete.«
    »Dann geh doch dahin!«, sagte sie. »Wir sehen uns dann im neuen Jahr in der Schule!«
    Sie hatte mich ausmanövriert, nach dieser Bemerkung gab es nichts mehr zu sagen.
    »Schön, dich zu sehen«, sagte ich. »Ich habe dich immer schon gemocht.«
    Damit drehte ich mich um und ging zurück. Dass ich sie immer schon gemocht hatte, war mir nur schwer über die Lippen gekommen, weil es nicht stimmte, aber es würde wenigstens davon ablenken, dass ich sie angefleht hatte, auf ihrer Fete dabei sein zu dürfen. Jetzt würde sie glauben, dass ich so gebettelt hatte, weil ich sie hatte anbaggern wollen. Und ich hätte sie anbaggern können, weil ich betrunken war. Wer tut so was nicht an Silvester?
    Verdammte Fotze. Diese verdammte verfickte Drecksfotze.
    Als ich zurückkam, schaute Jan Vidar zu mir auf.
    »Aus der Fete wird nichts«, sagte ich. »Wir dürfen nicht mitkommen.«
    »Warum nicht? Ich dachte, du kennst die?«
    »Nur für geladene Gäste. Und das sind wir nun einmal nicht. So ein verdammter Mist.«
    Jan Vidar pfiff.
    »Wir gehen einfach zurück. Es war doch okay da.«
    Ich sah ihn ausdruckslos an und gähnte, damit er begriff, wie okay das war. Aber wir hatten keine andere Wahl. Seinen Vater sollten wir nicht vor zwei anrufen. In der Silvesternacht konnten wir ihn ja schlecht um zehn nach zwölf anrufen. Und so ging ich ein weiteres Mal vor der alltäglich gekleideten und leicht verpickelten Gesamtschulclique durch die Einfamilienhaussiedlung in Søm in dieser stürmischen Silvesternacht 1984/1985.
    Zehn Minuten vor halb drei hielt Jan Vidars Vater vor dem Haus. Wir standen bereit und warteten. Ich als der weniger Betrunkene nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Jan Vidar, der nur eine Stunde vorher mit einem Lampenschirm auf dem Kopf herumgesprungen war, sich wie geplant nach hinten setzte. Er hatte sich zum Glück übergeben, und nachdem er ein Glas Wasser getrunken und sich unter dem Wasserhahn gründlich das Gesicht gewaschen hatte, war er in der Lage gewesen, seinen Vater anzurufen und ihm zu sagen, wo wir uns befanden. Überzeugend klang er nicht, ich stand neben ihm und hörte, wie er den ersten Teil des Worts irgendwie hochrülpste, um anschließend den letzten zu verschlucken, aber die Adresse wurde übermittelt, und unsere Eltern glaubten ja wohl nicht, dass wir bei Gelegenheiten wie dieser nicht mit Alkohol in Kontakt kamen?
    »Frohes neues Jahr, Jungs!«,

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