Sterben: Roman (German Edition)
Ich wusste genau, vor zwölf würden die Gäste der Fete zusammenbleiben, sich umarmen und sich gegenseitig ein frohes neues Jahr wünschen, sie kannten sich von früher, sie waren Freunde, eine Clique, wie jeder auf dem Gymnasium seine Clique hatte, und dieser Clique stand ich zu fern, um mich in dem Moment unter sie mischen zu können. Nach zwölf würde sich jedoch alles auflösen, sie würden stehen bleiben und trinken, nicht sofort zurückgehen, aber bald, und in diesem Zustand, dieser leicht aufgelösten, planlosen Situation, würde ich zu ihnen stoßen und ein wenig reden und mich beiläufig, oder jedenfalls, ohne zu zeigen, wie sehr ich es wollte, an sie hängen und mit ihnen gehen können.
Das Fragezeichen war Jan Vidar. Wollte er wirklich mitkommen? Dort waren nur Leute, die er nicht kannte und mit denen ich mehr gemeinsam hatte als er. Hatte er nicht seinen Spaß, wie er dort stand und sich unterhielt?
Ach, ich musste ihn fragen. Wollte er nicht, dann wollte er eben nicht. Ich würde jedenfalls nie wieder einen Fuß in diesen gottverdammten Partykeller setzen, so viel stand fest.
Da war sie ja.
Sie stand ein Stück weiter oben, etwa dreißig Meter von uns entfernt, umgeben von den Gästen ihrer Fete. Ich versuchte, sie zu zählen, aber außerhalb des innersten Zirkels war schwer abzuschätzen, wer zu ihrer Fete gehörte und wer zu anderen Partys. Aber zehn bis zwölf würden es schon sein. Fast alle Gesichter hatte ich vorher schon einmal gesehen, es waren die Leute, mit denen sie immer in den Pausen zusammenhing. Schön war sie im Grunde nicht, sie hatte ein kleines Doppelkinn und ein wenig feiste Wangen, ohne in irgendeiner Form fett zu sein, blaue Augen und blonde Haare. Sie war klein und hatte etwas von einer Ente. Aber nichts von all dem spielte eine Rolle bei der Beurteilung ihrer Person, denn sie hatte etwas anderes, das wichtiger war, sie war ein Mittelpunkt. Wenn sie irgendwohin kam und den Mund aufmachte, bekam das, was sie war und zu sagen hatte, unweigerlich Bedeutung. Sie ging jedes Wochenende aus, in der Stadt oder auf private Partys, falls sie nicht auf einer Hütte in einem Skiort oder in irgendeiner Großstadt war. Immer mit ihrer Clique. Ich hasste diese Clique, das tat ich wirklich, und wenn ich bei ihr stand und hörte, wie sie sich über all das ausließ, was sie in letzter Zeit gemacht hatte, hasste ich auch sie.
An diesem Abend trug sie einen dunkelblauen, knielangen Mantel. Unter ihm sah man ansatzweise ein hellblaues Kleid und hautfarbene Strümpfe. Auf dem Kopf hatte sie … ja, was mochte es sein, ein Diadem? Wie eine verdammte Prinzessin?
Ringsum hatte das Ganze an Intensität zugenommen. Jetzt gab es überall nur noch Knallerei und Explosionen und Rufe. Dann, gleichsam von oben, als gäbe Gott persönlich seine Freude über ein neues Jahr bekannt, erschallten die Sirenen. Um uns herum wurde gejubelt. Ich sah auf die Uhr. Zwölf.
Jan Vidar begegnete meinem Blick.
»Es ist zwölf!«, rief er. »Frohes neues Jahr!«
Er torkelte auf mich zu.
Oh nein, verdammt, er hatte doch wohl nicht vor, mich zu umarmen?
Nein, nein, nein!
Aber da war er schon, legte die Arme um mich und presste seine Wange an meine.
»Frohes neues Jahr, Karl Ove«, sagte er. »Und danke für das alte!«
»Frohes neues Jahr«, erwiderte ich. Seine Bartstoppel rieben sich an meiner glatten Wange. Er klopfte mir zweimal auf den Rücken, ehe er einen Schritt zurücktrat.
»Øyvind!«, sagte er und ging auf ihn zu.
Warum zum Teufel hatte er mich umarmen wollen? Wozu sollte das gut sein? Wir umarmten uns doch auch sonst nie. Wir gehörten nicht zu den Leuten, die sich umarmten, wir doch nicht.
Das war vielleicht ein verdammter Mist.
»Frohes neues Jahr, Karl Ove!«, sagte Lene. Sie lächelte mich an, und ich lehnte mich vor und umarmte sie kurz.
»Frohes neues Jahr«, sagte ich. »Du bist so schön.«
Ihr Gesicht, das eine Sekunde zuvor irgendwie umhergeglitten und ein Teil von allem gewesen war, was um uns herum geschah, erstarrte.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete ich. »Danke für das alte.«
Sie lächelte.
»Ich hab gehört, was du gesagt hast«, erklärte sie. »Danke gleichfalls.«
Als sie sich umdrehte, hatte ich einen Ständer.
Oh nein, das nicht auch noch.
Ich leerte meine Bierflasche. Jetzt waren nur noch drei Flaschen in der Tüte. Ich wollte sie mir für später aufheben, aber ich brauchte etwas, womit ich mich beschäftigen konnte, so dass ich eine
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