Sterben: Roman (German Edition)
ich.
Ja! Ja! Ja!
Ich saß wartend auf der Couch, als sie gegen sechs an die Tür klopfte.
»Hallo!«, begrüßte ich sie. »Magst du kurz reinkommen, während ich mich anziehe?«
»Klar«, sagte sie.
Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Sie hatte eine weiße Mütze tief über die Augen gezogen, einen großen, weißen Schal um den Hals gewickelt.
»Hier wohnst du also!«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
»Das ist das Wohnzimmer. Dahinter ist die Küche. Das Schlafzimmer ist oben. Eigentlich ist hier die Kanzlei meines Großvaters. Sie liegt da«, erläuterte ich und nickte in Richtung der Tür auf der anderen Seite.
»Ist es nicht einsam, hier alleine zu wohnen?«
»Nein«, antwortete ich. »Überhaupt nicht. Ich bin gern allein. Außerdem bin ich oft oben in Tveit.«
Ich zog die Jacke an, an der immer noch der Smile-Button haftete, einen Schal und die hohen Winterschuhe.
»Ich geh nur noch kurz auf Toilette, dann können wir«, sagte ich. Schloss die Tür zur Toilette hinter mir. Hörte sie draußen leise vor sich hin singen. Die Wohnung war hellhörig, vielleicht wollte sie übertönen, was in der Toilette geschah, vielleicht einfach nur singen.
Ich hob den Toilettendeckel und schwang den Pimmel heraus.
Gleichzeitig erkannte ich, dass ich unmöglich pinkeln konnte, solange sie da draußen war. Es war so hellhörig, der Flur war so klein. Selbst dass ich es nicht schaffte, würde sie hören.
Oh, verdammt.
Ich presste mit aller Macht.
Nicht ein Tropfen.
Sie sang und ging auf und ab.
Was mochte sie denken?
Nach einer halben Minute gab ich auf, drehte den Wasserhahn und ließ das Wasser ein paar Sekunden laufen, damit wenigstens etwas passiert war, drehte wieder zu, öffnete die Tür und ging zu ihrem verlegen gesenkten Blick hinaus.
»Dann wollen wir mal«, sagte ich.
Die Straßen waren dunkel, und es war wie so oft in dieser Stadt im Winter windig. Unterwegs sprachen wir nicht viel. Unterhielten uns ein wenig über die Schule und unsere Mitschüler, Bassen, Molle, Siv, Tone, Anne. Aus irgendeinem Grund fing sie an, über ihren Vater zu sprechen, den sie ganz toll fand. Er sei nicht gläubig, erläuterte sie. Das überraschte mich. Hatte sie aus eigenem Antrieb zum Glauben gefunden? Sie meinte, ihr Vater hätte mir gefallen. Hätte?, dachte ich. Ja, sagte ich. Er klingt nett. Lakonisch. Was bedeutet lakonisch?, sagte sie und sah mich mit ihren grünen Augen an. Wenn sie das tat, schmolz ich jedes Mal dahin. Ich hätte alle Fensterscheiben ringsum einschlagen, alle Fußgänger zu Boden reißen und auf ihnen auf und ab hüpfen können, bis kein Leben mehr in ihnen war, so viel Energie setzten ihre Augen in mir frei. Ich hätte auch den Arm um ihre Taille legen und die Straße hinunter Walzer tanzen, allen Passanten Blumen zuwerfen, aus vollem Hals singen können. Lakonisch?, sagte ich. Das ist schwer zu beschreiben. Trocken und sachlich, vielleicht übertrieben sachlich. Eine Art Understatement. Hier ist es, oder?
Die Versammlung sollte in der Dronningens gate stattfinden. Ja genau, hier war es, an der Tür hingen die Plakate.
Wir gingen hinein.
Der Veranstaltungsraum lag in der oberen Etage, er war voller Stühle, vorne stand ein Rednerpult, daneben ein Overhead-Projektor. Eine Handvoll Jugendlicher, vielleicht zehn, vielleicht auch zwölf.
Unter dem Fenster stand eine große Thermoskanne, neben ihr eine kleine Schale mit Keksen und ein hoher Stapel weißer Plastiktassen.
»Möchtest du einen Kaffee?«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Aber vielleicht einen Keks?«
Ich schenkte mir einen Kaffee ein, nahm zwei Kekse und kehrte zu ihr zurück. Wir setzten uns in eine der hintersten Reihen.
Es kamen noch fünf oder sechs, dann begann die Versammlung. Organisiert hatte sie die Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei, und es war eine Art Werbeveranstaltung. Jedenfalls wurde die Politik der Jugendorganisation vorgestellt und anschließend über Jugendpolitik im Allgemeinen gesprochen, warum es wichtig sei, sich zu engagieren, wie viel man tatsächlich erreichen könne, und als kleine Belohnung, was man selbst, ganz persönlich, davon habe.
Hätte Hanne nicht neben mir gesessen, ein Bein über das andere geschlagen, so nahe, dass es in mir brannte, wäre ich aufgestanden und gegangen. Ich hatte mir vorher so etwas wie eine Massenkundgebung vorgestellt, einen überfüllten Saal, Zigarettenrauch, geistreiche Redner,
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