Sterben: Roman (German Edition)
an ihr neu war, vielleicht auch die größte. Alles in mir war auf Hanne fokussiert. Jeden Morgen wachte ich auf und freute mich darauf, in die Schule zu gehen, wo sie sein würde. War sie nicht da, weil sie krank oder verreist war, verlor alles sofort jeden Sinn, dann ging es für den Rest des Tages nur noch darum durchzuhalten. Wozu? Worauf wartete ich eigentlich, wenn ich wartete? Jedenfalls nicht auf leidenschaftliche Umarmungen und tiefe Küsse, denn eine Beziehung in diesem Sinne existierte schlicht und ergreifend nicht. Nein, worauf ich wartete und wofür ich lebte, das war ihre Hand, die mir flüchtig über die Schulter strich, das war das Lächeln, das ihr Gesicht aufleuchten ließ, wenn sie mich sah oder ich etwas Witziges sagte, es war das Drücken und die Umarmung, wenn wir uns nach der Schule als Freunde begegneten. Es waren diese Sekunden, wenn ich die Arme um sie legte und ihre Wange an meiner spürte, ihren Geruch, das Shampoo, das sie benutzte, seinen schwachen Apfelduft wahrnahm. Sie fühlte sich zu mir hingezogen, das wusste ich, hatte jedoch so strenge Grenzen um sich und das, was sie tun durfte, gezogen, dass sich die Frage, ob wir beide ein Paar werden könnten, niemals stellte. Allerdings war ich unsicher, ob sie sich wirklich zu mir hingezogen fühlte, vielleicht war es auch nur so, dass sie sich von der vielen Aufmerksamkeit, die ich ihr schenkte, geschmeichelt fühlte und mit ihr spielen wollte. Aber egal, ich hoffte und interpretierte alles, was sie im Laufe eines Schultags sagte und tat, sobald ich in meine Bude kam, und dies stürzte mich entweder in ein Tal tiefsten Elends oder schleuderte mich auf den Gipfel höchster und strahlendster Freude empor – dazwischen gab es nichts.
In der Schule begann ich, ihr Zettel zuzuwerfen. Kurze Kommentare, kurze Grüße, kurze Nachrichten, die ich mir häufig am Vorabend überlegt hatte. Dann antwortete sie, daraufhin las ich ihre Worte und verfasste eine Antwort, die ich zurückwarf, um sie anschließend beim Lesen genau zu beobachten. Schloss sie etwas, das ich geöffnet hatte, verzweifelte ich völlig. Ließ sie sich auf etwas ein, vibrierte und schimmerte es in mir, als wäre ich eine Glocke. Später wurden diese Zettel gegen ein Notizbuch ausgetauscht, das zwischen uns hin und her ging, allerdings nicht zu oft, denn ich wollte nicht, dass sie es leid wurde, zwei-, dreimal im Laufe eines Tages reichten völlig. Ich fragte sie oft, ob sie mit mir ins Kino oder in ein Café gehen wolle, worauf sie jedesmal antwortete, du weißt, dass ich das nicht tun kann.
In den Pausen diskutierten wir, ein bisschen über Politik, vor allem jedoch über Religion, sie war gläubige Christin, ich war ein leidenschaftlicher Gegner des Christentums, und meine Argumente gab sie an den jungen Vorsteher ihrer Gemeinde weiter und teilte mir beim nächsten Mal seine Antwort mit. Der Junge, mit dem sie zusammen war, gehörte derselben Gemeinde an, und obwohl ich ihre Beziehung nicht direkt bedrohte, bildete ich doch einen Kontrast zu ihrem dortigen Leben. Jedenfalls wurde der Raum für die kurzen Begegnungen in den Pausen, zu denen es nicht einmal täglich kam, behutsam und umerklich so ausgeweitet, dass er auch außerhalb der Schule gültig war. Wir waren Freunde, Klassenkameraden, sollten wir nach der Schule nicht auch mal einen Kaffee trinken gehen können? Sollten wir nicht manchmal zusammen zum Bus gehen können?
Ich lebte dafür. Die kurzen Blicke, das flüchtige Lächeln, die kleinen Berührungen. Und, ja genau, ihr Lachen! Wenn es mir gelang, sie zum Lachen zu bringen!
Dafür lebte ich. Aber ich wollte mehr, viel, viel mehr. Ich wollte sie immer sehen, die ganze Zeit mit ihr zusammen sein, zu ihr nach Hause eingeladen werden, ihre Eltern kennen lernen, mit ihren Freunden ausgehen, mit ihr in Urlaub fahren, sie mit nach Hause nehmen …
Du weißt, dass ich das nicht tun kann.
Das Kino war mit Beziehungen und Liebe verknüpft, aber es gab andere Arrangements, für die das nicht galt, und eins davon war die Veranstaltung, zu der ich Hanne an einem Tag Anfang Februar einlud. Es war eine politische Versammlung für Jugendliche im Stadtzentrum, ich hatte in der Schule eine Ankündigung gesehen, und eines Vormittags schrieb ich ihr und fragte sie, ob sie mitkommen wolle? Als sie meine Nachricht las, schaute sie zu mir hinüber, ohne zu lächeln, und schrieb etwas. Sie schickte das Buch zu mir zurück, ich öffnete es und las. Ja!, stand dort.
Ja!, dachte
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