Sterben: Roman (German Edition)
brüllendes Gelächter im Raum, also sozusagen eine Agnar-Mykle-hafte Veranstaltung mit einer Agnar-Mykle-haften Bedeutung, junge Männer und Frauen, die wirklich etwas wollten, für etwas lebten, für den Sozialismus, dieses magische Wort aus den fünfziger Jahren, und nicht das hier, biedere Jungen in biederen Pullovern und hässlichen Hosen, die zu einer kleinen Versammlung von Jungen und Mädchen, die ihnen selbst ähnelten, über langweilige und geistlose Dinge sprachen.
Wer interessiert sich schon für Politik, wenn im Inneren Flammen lodern?
Wer interessiert sich schon für Politik, wenn man vor Lust auf das Leben brennt? Vor Lust auf das Lebendige?
Ich jedenfalls nicht.
Nach den drei Vorträgen werde man eine kurze Pause machen, und danach solle es Workshops und Diskussionen in Gruppen geben, hieß es. Als die Pause begann, fragte ich Hanne, ob wir gehen wollten, eine gute Idee, meinte sie, und so traten wir wieder in die kalte abendliche Dunkelheit hinaus. Drinnen hatte sie ihre Jacke über den Stuhlrücken gehängt, und der Pullover, der daraufhin zum Vorschein kam, dick und aus Wolle, beulte in einer Weise leicht aus, die mich ein ums andere Mal schlucken ließ, denn sie war mir so nah, es gab so wenig, was uns trennte.
Als wir zurückgingen, erzählte ich ihr von meinen politischen Ansichten. Sie meinte, ich hätte zu allem Ansichten, woher nahm ich nur die Zeit, mich mit allem zu beschäftigen? Sie selbst habe zu kaum etwas eine Meinung, sagte sie. Ich erwiderte, dass ich auch kaum etwas wisse. Aber du bist doch Anarchist!, widersprach sie. Wie bist du darauf gekommen? Ich weiß nicht mal richtig, was ein Anarchist ist. Aber du bist Christin, sagte ich. Woher hast du das? Deine Eltern sind doch gar keine Christen. Und deine Schwester auch nicht. Nur du. Und in dem Punkt bist du dir sicher. Ja, sagte sie, da hast du Recht. Aber es kommt mir so vor, als würdest du viel grübeln. Du solltest mehr leben. Ich versuche es, sagte ich.
Vor meiner Wohnung blieben wir stehen.
»Von wo geht dein Bus?«, fragte ich.
»Der geht da oben ab«, antwortete sie und nickte die Straße hinauf.
»Soll ich dich begleiten?«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich gehe allein. Ich hab meinen Walkman dabei.«
»Okay«, sagte ich.
»Danke für den Abend«, sagte sie.
»Da gibt’s ja wohl nichts zu danken«, erwiderte ich.
Sie lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf den Mund. Ich drückte sie fest an mich, sie erwiderte die Umarmung und machte sich frei. Wir sahen uns kurz an, dann ging sie.
An jenem Abend fand ich keine Ruhe, ich lief durch die Wohnung, im Zimmer auf und ab, die Treppe hinauf und hinunter, in die Zimmer unten und wieder hinaus. Ich hatte das Gefühl, größer zu sein als die Welt, als wäre alles von ihr in meinem Inneren und als gäbe es nun nichts mehr, nach dem man sich strecken konnte. Die Menschheit war klein, die Geschichte war klein, der Erdball war klein, ja sogar das Universum, von dem sie doch sagten, es sei unendlich, war klein. Ich war größer als alles. Es war ein fantastisches Gefühl, aber es machte mich rastlos, denn das Wichtigste daran war das Streben nach dem, was kommen, was ich tun würde, und nicht, was ich tat oder getan hatte.
Wie sollte ich all das, was jetzt in mir war, kontrollieren?
Ich zwang mich ins Bett, zwang mich, reglos dazuliegen, nicht einen Muskel zu bewegen, ganz gleich, wie lange es dauern würde, bis der Schlaf mich übermannte. Seltsamerweise schlich er sich schon wenige Minuten später an wie ein Jäger an seine ahnungslose Beute, und ich hätte es bis zum Schluss nicht bemerkt, wenn nicht plötzlich mein Fuß gezuckt hätte, wodurch ich auf meine Gedanken aufmerksam wurde, die vollkommen lebensfern waren, es ging in ihnen irgendwie um ein Boot, auf dessen Deck ich stand, während direkt neben mir ein riesiger Wal in die Tiefe hinabschoss, was ich trotz der unmöglichen Position sah. Ich erkannte, dass dies der Anfang eines Traums war, der Arm des Traums, der das Ich zu sich hineinzog, wo es sich in seine Umgebung verwandelt, denn das war geschehen, als ich zusammenzuckte, ich war ein Traum, der Traum war ich.
Ich schloss erneut die Augen.
Nicht bewegen, nicht bewegen, nicht bewegen …
Der nächste Tag war ein Samstag, und am Vormittag hatte ich Training mit der 1. Mannschaft.
Viele verstanden nicht, dass ich bei ihnen mitspielte. Ich war doch nicht besonders gut. Jedenfalls gab es sechs, vielleicht sogar sieben
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