Sterben Sie blo nicht im Sommer
kurzen Blick auf den ›Stoff‹, also auf Ewa oder Lucia oder Valentina oder Dorata, werfen, anstatt – wie es auch üblich ist – ihn telefonisch in Polen oder Rumänien zu ordern. Wir haben Glück und ich einen Termin zum Blind Date mit Ursula. Vorab weiß ich von ihr so viel: Sie hat bereits jahrelange Pflege-Erfahrung, in der eigenen Familie und im Dienste pflegebedürftiger Senioren. Das Beste: Sie steht auch kurzfristig zur Verfügung. Zum schwarzmarktüblichen Preis von 900 Euro pro Monat, zuzüglich der Fahrtkosten. Alle drei Monate wird sie mit dem Bus für zwei, drei Wochen in ihre Heimat fahren. »Das kostet vielleicht 70 Euro«, erklärt mir mein ›Dealer‹. Er und seine pflegebedürftige Frau sind schon seit Jahren abhängig – von Weronika, davor von Iwanka und davor von Zofija. Ohne diese Frauen hätte er seine chronisch kranke Frau weder angemessen pflegen noch in seinem Beruf bleiben können. Was wäre die Alternative gewesen? »Pflegeheim«, sagt er, selbst wenn er seine Arbeit aufgegeben hätte. Allein wäre das nicht zu schaffen gewesen, auch nicht mit Pflegedienst. Das wollte er ihr und sich nicht antun.
Wie man einen ›Dealer‹ findet? Indem man herumerzählt, was man braucht. Das Verblüffende: Beinahe jeder Zweite weiß tatsächlich jemanden. Da ist die Kollegin, die ihre Mutter von zwei Polinnen über ein Jahr lang daheim pflegen ließ, der ehemalige Mitschüler, dessen verwitweter Vater seit Jahren von Rumäninnen versorgt wird, Bekannte, deren Schwiegermutter nur dank Ewa noch daheim leben kann. Ich bekomme Telefonnummern zugesteckt mit Anweisungen, die man sonst eher aus Agentenfilmen kennt: Bloß nicht nach 20 Uhr anrufen, und erst einen bestimmten Namen als Referenz nennen. Ich telefoniere mit mir völlig fremden Menschen, alle sind sehr freundlich und hilfsbereit. Am Ende bleibt Ursula als Strohhalm übrig.
Nun sitze ich mit dem Paar – nennen wir es Claudia und Martin –, mit Weronika und Ursula am Wohnzimmertisch der behindertengerechten Wohnung irgendwo im Ruhrgebiet. Genaueres darf ja nicht ausgeplaudert werden. Wir befinden uns an diesem sonnigen Samstagnachmittag schließlich mitten im Schattenreich der deutschen Pflegelandschaft. Weronika hat weder einen Arbeitsvertrag noch eine Krankenversicherung. Nicht, dass Frauen aus Osteuropa hierzulande nicht arbeiten dürfen. Aber sie legal zu beschäftigen ist aus vielerlei Gründen manchmal kaum eine Option. Zwar ist mittlerweile wenigstens die aufwendige Arbeitsmarktprüfung für die meisten osteuropäischen Länder entfallen (bis Mai 2011 musste der Nachweis geführt werden, dass es keinen deutschen Bewerber für die Stelle gibt). Dennoch sind ausreichend Hürden geblieben, die nicht wenig zur Nachfrage nach illegalen Arbeitskräften beitragen. Nach unterschiedlichen Schätzungen pflegen in Deutschland rund 100.000 bis 150.000 Osteuropäerinnen in der Illegalität (die meisten davon übrigens in den reichen Bundesländern, in Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg). [89] Da wäre zum einen das Procedere, gegen das selbst das CDU -Parteispenden-Dickicht geradezu übersichtlich wirkt. Entsendet etwa eine Agentur im Ausland eine Arbeitskraft nach Deutschland, ist man nur dann auf der sicheren Seite, wenn die Bundesagentur für Arbeit der entsendenden Firma eine »Verleiherlaubnis« ausgestellt hat. »Auch Helferinnen, die im EU -Ausland als Selbstständige gemeldet sind, können entsendet werden«, schreibt die Zeitschrift Finanztest, warnt aber: »Die Helferin kann ›scheinselbstständig‹ sein.« [90] Eigentlich muss sie ihre Arbeitskraft noch anderen Familien zur Verfügung stellen – kann sie aber nicht, weil der Sinn der Sache mit der Pflege ja ist, dass sie sich ausschließlich um einen Menschen kümmert. Und: Es heißt ›Haushaltshilfe‹, nicht ›Pflegekraft‹. Die Frauen dürfen lediglich als Haushaltshilfen für Pflegebedürftige arbeiten. Obwohl der Rahmen da mittlerweile etwas großzügiger gefasst ist als noch vor einiger Zeit: Er umfasst das An- und Auskleiden, die Körperhygiene, Begleitung beim Gang auf die Toilette und Hilfen beim Essen. Nicht gestattet sind Aufgaben, die gewöhnlich nur ein Pflegedienst übernimmt »wie zum Beispiel Verband wechseln, Wunden versorgen, Medikamente geben oder Kompressionsstrümpfe wechseln«. [91] Das gilt auch für den Fall, dass es sich um eine ausgebildete polnische Krankenschwester handelt und gerade die guten Pflegedienste in manchen Regionen Wartezeiten
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