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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kleis
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Geschichte von Moses, der die Kinder Israels durch die Wüste führt und auf der Flucht vor den Ägyptern am Ufer des Roten Meeres landet. Er fleht zum Himmel, und tatsächlich schaut Gott aus den Wolken und sagt: »Warum jammerst du, Moses? Höre also: Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht: Ich werde das Meer teilen, damit dein Volk trockenen Fußes ins Gelobte Land kann.« »Großartig«, sagt Moses, »und die schlechte Nachricht?« »Ich brauche erst die Umweltverträglichkeitsprüfung eines unabhängigen Sachverständigen!«
    Es muss so viel organisiert werden, dauernd soll man sich in neue Bereiche einarbeiten. Nichts erklärt sich von selbst, und wie dem Politiker kurz vor den Wahlen sollte man allem, was einem gerade von offizieller Seite geliefert wird, grundsätzlich misstrauen. Einmal verkündet die Kasse, sie werde ab heute die Kosten für die Medikamentengabe durch den Pflegedienst nicht weiter übernehmen. Das Argument: Mein 75-jähriger Vater könne das mindestens genauso gut. Absurd. Vermutlich hatte nicht mal Michael Jackson so viele unterschiedliche Medikamente vorrätig, wie meine Mutter sie nun braucht. Jedes Medikament wird zudem vor der Gabe anders behandelt. Manche muss man auflösen, andere mörsern. Dann ist außerdem noch das Messen des Blutzuckers, wofür man meine Mutter in die Finger ritzen muss. Ganz zu schweigen von den täglichen Thrombosespritzen. Ich rufe bei der Kasse an. »Unmöglich!«, sage ich. Und: »Wenn da etwas passiert …!« »Dann machen Sie das doch!«, sagt die Frau am anderen Ende. »Wie denken Sie sich das?«, frage ich. »Ich kann nicht mal im Fernsehen sehen, wenn jemand eine Spritze bekommt.« Trotzdem: An der Entscheidung sei nicht zu rütteln. Es kostet mich einen halben Tag Recherchen, bis ich aus dem Internet die Information gefischt habe, die der Krankenkasse sicher auch vorliegt: dass Krankenkassen von Versicherten nicht verlangen können, Eingriffe in die körperliche Sphäre durch Angehörige vornehmen zu lassen. Das Spritzen gehört eben zu diesen ›Eingriffen‹. Das Landessozialgericht für das Land Brandenburg hatte das in zwei Entscheidungen klargestellt. [87] In den beurteilten Fällen war es ebenso wie bei uns darum gegangen, dass die Krankenkassen die Kostenübernahme für Injektionen mit dem Argument abgelehnt hatten, der im Haushalt lebende Angehörige müsse das übernehmen. Es ist eine sehr lange, ziemlich komplizierte Begründung, die unter anderen so schöne Formulierungen wie »Schutz der Menschenwürde« und »Grundgesetz verbietet« enthält. Ich kopiere den Text und sende ihn mit einer Mail an die zuständige Sachbearbeiterin. Erst als ihr der Text mit dem Gerichtsurteil vorliegt, wird die Entscheidung zurückgenommen.
    Da jeder nur für ein winziges Teilstück von Krankheit und Pflege zuständig ist, braucht sich auch keiner für den ganzen Menschen verantwortlich zu fühlen, über dessen Wohl und Wehe da entschieden wird. Es trägt auch niemand Schuld an irgendwas. Was soll schon passieren, wenn es stets ›nur‹ um ein winziges Puzzlesteinchen geht, das möglicherweise fehlt: ein Pflegebett, Windeln, ein bisschen Geld, Informationen. So ist man schon mal strukturell hübsch von jeglicher Verantwortung für das Große und Ganze dispensiert. Das ist das Prinzip der Bürokratisierung, diesem »gigantischen Mechanismus, der von Zwergen bedient wird«, so Honoré de Balzac: Sie erlaubt die größtmögliche Distanz und damit das kleinstmögliche Mitgefühl. Diese »Versachlichung« sei einmal dazu erfunden worden, die »Bevorzugung oder Benachteiligung Einzelner in Form von willkürlichen Entscheidungen« zu verhindern, »weil sich alle an die gleichen und rational begründeten Spielregeln bzw. Gesetze (eine gesetzte Ordnung) halten müssen«. [88] Nun schafft die ›Versachlichung‹ eine andere Ungerechtigkeit: Sie bevorzugt jene, die über ausreichend Zeit, starke Nerven und Insiderwissen verfügen, die mit einem niedrigen Erregungsniveau, mit Internetanschluss und Durchsetzungsvermögen ausgestattet sind. Und auch die Wohlhabenden, die bei Versorgungslücken in Vorlage gehen können, die zwangsläufig entstehen, hat man es mit einem System zu tun, das so frostig auf alle Ansprüche reagiert, dass man darin Fischstäbchen aufbewahren könnte. Dabei steht man unter dem steten Generalverdacht, man würde weit mehr Kosten verursachen, als einem eigentlich zustehen. Stets wird man gegängelt, seinen Bedarf aufs Penibelste gleich

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