Sterben War Gestern
geradewegs in die Augen. „Ich komme mir ein bisschen vor wie im Fernsehen. Falls Sie testen wollen, ob ich weiß, wie Angela getötet worden ist, lautet die Antwort: Nein. Und ich möchte es mir auch gar nicht vorstellen. Allein der Gedanke daran, dass ihr jemand wehgetan hat …“, an dieser Stelle brach er ab und zog die Nase hoch. Der Mann rang um Fassung, und wie Hauptkommissar Erich Werle zugeben musste, wirkte der Ehemann des Opfers dabei sehr überzeugend. Aber er blieb hart. Esser war der einzige Verdächtige, den er bisher hatte, und immerhin passte alles zusammen. Nur eben seine Trauer nicht.
„Ich glaube Ihnen kein Wort“, sagte er trocken.
Jürgen Esser reagierte nicht.
„Es wäre vielleicht besser, wenn Sie sich mit einem Anwalt beraten würden.“
„Ich würde gerne meine Tochter anrufen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an. Aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Die Beweislast ist erdrückend. Sie bleiben solange in Haft, bis Sie mir etwas Neues zu sagen haben.“
Erich Werle gab dem Justizbeamten, der an der Tür stand, einen Wink, was bedeutete, dass er Jürgen Esser abführen sollte. Er selbst blieb sitzen und sah den beiden Männern nach. Er wusste genau, dass er hoch pokerte und dass von Beweislast keine Rede sein konnte. Es gab ein paar Indizien, sonst nichts. Kein Richter der Welt würde dafür einen Haftbefehl ausstellen. Werle war froh, wenn er innerhalb der nächsten Stunden einen Durchsuchungsbefehl für Essers Wohnung in München erwirkte. Und wenn er ihn bekam – wonach sollte er suchen?
Die kalten Umschläge hatten nichts genützt. Seine geröteten Augen und die geschwollene Partie oberhalb der Wangen ließen keinen anderen Schluss zu als den, dass er geweint hatte. Es war ihm unangenehm, seinen erbärmlichen Zustand so deutlich zur Schau zu stellen. Am liebsten wäre er auf seinem Zimmer geblieben, doch das war, wie er den Regeln des Faltblattes entnehmen konnte, das ihm Schwester Agathe nach der Ankunft ausgehändigt hatte, unerwünscht. Nur in Ausnahmefällen durfte man sich vom Essen abmelden und sich der Gemeinschaft am Morgen, Mittag und Abend entziehen. Überhaupt war anscheinend alles in der Klinik darauf ausgerichtet, dass man möglichst wenig allein war, ein Umstand, der ihn nervös machte.
Sein Bedürfnis, sich zurückzuziehen, für sich zu sein, war in den letzten Monaten immer größer geworden, so groß, dass er nicht mehr hatte ins Büro gehen können, so stark, dass er ins Hotel gezogen war. Er hatte die Zeit allerdings nicht genutzt, um zu sich zu kommen, sondern jede freie Minute am Computer oder auf dem Laufband verbracht. Ewald Klee war arbeits- und sportsüchtig und seit zwei Tagen auf Entzug. Sein Arzt hatte behauptet, es gäbe bei der Ankunft in der Klinik Gepäckkontrollen, damit die Patienten weder Alkohol noch unzulässige Medikamente einschmuggeln könnten, und dabei würden automatisch auch alle internetfähigen Geräte für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes konfisziert. Tatsächlich hatte keinerlei Durchsuchung stattgefunden, doch allein die Androhung hatte gereicht, dass Ewald sein Laptop und sein iPhone zu Hause gelassen und sich lediglich ein einfaches Prepaid-Handy zugelegt hatte. Der Seniormanager eines großen Versicherungskonzerns in Frankfurt saß also auf dem Trockenen. Zur Kompensation war er bereits vor dem Frühstück eine Dreiviertelstunde am Strand entlanggejoggt, hatte zwanzig Bahnen in dem Fünfundzwanzigmeterbecken zurückgelegt und dreißig Liegestützen gemacht. Dabei kreisten seine Gedanken unentwegt um die Lösung dreier Themenkomplexe. Erstens: Wie sollte er jemals wieder zurückfinden in den normalen Arbeitsalltag als Führungskraft eines straff amerikanisch strukturierten Unternehmens? Zweitens: Was konnte er noch gegen die Schmerzen im ganzen Körper tun, deren Ursache man in Ermangelung einer eindeutigen Diagnose Weichteilrheuma nannte? Und drittens: War seine Ehe noch zu retten? Während er sich darüber den Kopf zerbrach, der Versuchung widerstand, Grit anzurufen, und sich bemühte, seine schmerzenden Gliedmaßen unter Kontrolle zu halten, war ihm, als verränne die Zeit ungenutzt, und dieser Umstand ängstigte ihn mehr als alles andere. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er statt der täglichen drei bis vier Behandlungstermine die doppelte Anzahl absolviert, um schneller voranzukommen. Das Herumsitzen zwischen Gruppentherapie und Yoga, die dreißig Minuten vor den Mahlzeiten und die zwangsverordnete
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