Sterben War Gestern
und bestieg das Motorrad elegant. „Komm!“
Lass es, mahnte ihre innere Stimme . Du wirst es bereuen. Am Ende verschuldest du noch einen Unfall, weil du dich zu blöde anstellst, anständig mitzufahren. Es wird nicht gut gehen. Du solltest in der Klinik bleiben, schwimmen gehen, schlafen und dich ausruhen.
„Ich weiß nicht, ich glaube …“
„Steig einfach auf. Wenn es nicht geht, halte ich sofort an und wir nehmen den Bus. Ehrlich.“
Inge Nowak schwankte zwischen der Angst, das Falsche zu tun, und der Angst, ihn zu enttäuschen. Wie lautete der Spruch, den sie heute Morgen in dem kleinen Büchlein gelesen hatte? Berger hatte es ihr mitgegeben und die Stelle angestrichen:
Ich kann das Problem nicht lösen, aber ich bewundere es.
Sie holte tief Luft, setzte den Helm auf und zog die Handschuhe an. Ewald winkte sie zu sich und verschloss das Sicherheitsband unter ihrem Kinn.
„Gut so oder zu eng?“
Sie klappte das Visier hoch. „Okay.“
Und dann nahm die Berliner Kriminalhauptkommissarin all ihren Mut zusammen und schwang sich so ungestüm auf die Sitzbank, dass sie beinahe auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre. Fahrer und Maschine schwankten ein wenig, doch dann waren sie beide sattelfest.
„Alles klar?“
Inge Nowak nickte hinter Plastik und schlug mit ihrem Helm gegen seinen, was ihr außerordentlich unangenehm war.
„Halt dich einfach an mir fest“, rief Ewald beruhigend.
Vorsichtig legte sie ihre Hände auf seine Hüften, worauf er zuerst ihren linken und dann ihren rechten Arm nahm, und sie beide um seinen Körper schloss.
Dann drückte er auf einen kleinen Knopf am Lenker und der Motor sprang mit einem überraschend leisen Surren an. Anders als viele Jahre zuvor ihr geschiedener Mann auf einem ruckeligen Münsteraner Polizeimotorrad schaltete Ewald sanft in den ersten Gang und fuhr ebenso gefühlvoll an. So unspektakulär wie die Maschine über die Straße glitt, so einfach war es plötzlich für Inge, sich an den ledernen Rücken ihres Fahrers zu lehnen und die ruhige Fahrt über die von hochgewachsenen, sich gerade aufblätternden Bäumen gesäumte Allee zu genießen. Der kühle Fahrtwind mogelte sich über die Schuhe und an den Socken vorbei die Hosenbeine hinauf. Die Frühlingssonne schien auf den grauen Asphalt, zaghaft erwachende Felder und zartgrüne Wiesen, und wenn sie den Blick ein wenig hob, dann kam es ihr vor, als schwebten sie gen Unendlichkeit.
Als sich die Nähe der Stadt ankündigte, hätte Inge nicht sagen können, wie lange die Fahrt gedauert hatte. Sie hatte an nichts Besonderes gedacht, sich nur dem Gefühl der Schwerelosigkeit hingegeben, das ewig hätte anhalten können. Ohne festen Ort zu sein, schien ihr angesichts ihrer persönlichen Lage bodenlos schön.
An der ersten roten Ampel drehte sich Ewald zu ihr um: „Alles gut?“
„Besser.“
„Wie heißt die Straße?“
„Rungestraße. Nummer 17.“ Erst jetzt sah sie, dass zu seinem unglaublich kompliziert aussehenden Cockpit auch ein Navigationsgerät gehörte, in das er die Straße nun eingab.
Es dauerte nicht lange, bis sie vor der Hofeinfahrt standen. Ewald manövrierte die BMW in eine freie Parklücke zwei Häuser weiter, und als sie abstieg, spürte sie ein angenehmes Kribbeln in den Beinen. Wie gut, dachte sie, als sie den Helm abnahm und sich mit der freien Hand durch die Haare fuhr, dass ich beim Frisör war. Mit einem gewissen Stolz trug sie den aerodynamisch wirkenden Kopfschutz lässig im Arm und dachte darüber nach, ob sie in ihrem Alter noch eine Lederjacke tragen könnte.
„Und jetzt?“, fragte Ewald, und sie wusste, dass es Zeit war, die Rollen zu tauschen.
„Wir besuchen unsere gemeinsame Freundin Ellen, was sonst?“, antwortete sie und ging voraus.
Vor Ellen Weyers Haustür bot sich in etwa das gleiche Bild wie am Vortag. Niemand hatte den Briefkasten geleert, die Jalousien waren noch immer heruntergelassen. Inge Nowak klingelte, aber niemand öffnete.
„Ich gehe jetzt rüber zu dem Nachbarn und verwickle ihn in ein Gespräch. Du tust derweil so, als ob du Ellen eine Nachricht schreibst, versuchst aber die Post aus dem Briefkasten zu fischen. Schaffst du das?“
„Ist das nicht polizeilich verboten?“
„Ich bin die Polizei, schon vergessen?“
Der Alte stand schon am geöffneten Fenster. Sie winkte und ging über den Hof auf ihn zu wie eine alte Bekannte.
„Haben Sie Ellen inzwischen gesehen?“, fragte sie.
„Nein. Ich mach mir auch schon Sorgen.
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