Sterben War Gestern
Normalerweise meldet sie sich immer, wenn mal was nicht klappt.“
„Na, mein Mann schreibt ihr gerade einen Zettel, irgendwann wird sie ihren Briefkasten ja mal leeren.“
„An den letzten Wochenenden ist sie immer gekommen, um ihre Post zu holen und Wäsche zu waschen. Das Krankenhaus ist ja hier in der Nähe. Wenn nicht, hat der Jens das erledigt.“
„Ach, der Jens! Was macht der denn jetzt eigentlich?“
„Na, fotografieren! Der Junge gibt sein ganzes Geld für Apparate aus. Macht aber auch schöne Bilder, ist ja immer in der Zeitung.“
„Ach, haben Sie vielleicht eine da, wo ein Bild von ihm drin ist? Wir sind ja nicht von hier!“
„Natürlich. Warten Sie. Ich hol eine.“
Kaum war er verschwunden, legte Inge ihren Helm ab und sprintete zu Ewald hinüber. Es ging leicht und sie fragte sich, wann sie das letzte Mal schnell gelaufen war und wieso sie keine Schwierigkeiten damit hatte. Weil sie so viel weniger Körpergewicht mit sich herumschleppte? Und wieso wurde ihr nicht schwindelig? Sie bremste ab. Sei, verdammt noch mal, vorsichtiger!
Ewald hatte inzwischen einige Umschläge aus dem eher großzügigen Kasten nach oben befördert und war dabei, sie in seinem Hosenbund zu verstauen. „Nimm mir die mal ab!“ flüsterte er. „Es steckt noch was Großes drin, da brauch ich beide Hände.“
Sie ließ die Briefe und Prospekte in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden und dankte Verónica innerlich, sie zu einem Outdoor-Modell mit vielen Taschen überredet zu haben.
„Du weißt nie, was du unterwegs alles mitnehmen willst“, hatte sie erwidert, als Inge zu bedenken gegeben hatte, dass sie nicht vorhätte, ein Survival-Training zu absolvieren. An Undercover-Ermittlungen hatte sie allerdings nicht gedacht.
Inzwischen hatte der Nachbar die Zeitung gefunden und war gerne bereit, ihnen die Seite mit einem Bild vom Rostocker Hafen zu überlassen.
„Das ist von ihm. JW sind die Anfangsbuchstaben von seinem Namen: Jens Wiskamp. Ist schon ein feiner Junge. Repariert mir auch mal den Wasserhahn. Ist ja ein Elend, wenn man alt wird. Immer angewiesen auf andere. Aber die zwei hat mir der Himmel geschickt!“
„Ja, wir mögen sie auch sehr gerne“, log die Kommissarin und verabschiedete sich mit der Bitte, Ellen Weyer herzlich von Inge und Ewald zu grüßen, sie möge sich doch bitte bei ihnen melden.
Die beiden sprachen nicht, bis sie wieder auf der Straße standen und außer Hörweite waren. Dort ordnete Inge ohne Umschweife an: „Gib mal die Koordinaten vom Ostsee-Tagblatt ein. Da fahren wir jetzt hin. Und bevor wir uns dort umschauen, trinken wir einen Espresso und sichten, was wir uns ausgeliehen haben.“
„Jawohl, Boss!“, antwortete Ewald und machte sich zum Start bereit.
Sie setzten sich auf eine Sonnenterrasse und sortierten den Inhalt des Briefkastens, der nicht mit einem Aufkleber Keine Werbung und kostenlose Zeitungen versehen war. Dementsprechend stapelte sich nun jede Menge sperriger Postwurfsendungen neben zwei direkt an Ellen Weyer gerichteten Briefen: Der eine war von Hand beschriftet, der andere zeigte die Adresse auf Briefpapier in einem Fensterumschlag.
„Wer auch immer dich jemals fragen sollte, ob du diese Postsendungen aus dem Briefkasten von Ellen Weyer geholt hast, dem wirst du mit Nein antworten. Verstanden?“ Inge Nowak blickte ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille an.
„Absolut.“ Ewald Klee war sichtlich aufgeregt und konnte es kaum abwarten, wie seine neue Bekannte von der Berliner Polizei weiter vorgehen würde. Sie tat das Nächstliegende; sie wartete, bis mit ihrem Espresso der daneben liegende kleine Löffel gebracht wurde und schlitzte mit dem Stiel beide Briefumschläge auf, die ihrer Meinung nach interessant waren. In dem einen steckte die Bestätigung über einen neuen Internetanschluss.
Der zweite Brief enthielt einen mit Füller verfassten Text. Inge las ihn Ewald vor:
Liebe Ellen,
sei mir nicht böse, aber die ganze Sache ist mir zu groß. Ich weiß, dass ich dir meine Unterstützung zugesagt hatte, aber nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es einfach ein zu dicker Fisch für mich ist. Ich bin dafür nicht gut genug und – verzeih, wenn ich so ehrlich bin – du, glaube ich, auch nicht. Vielleicht wäre es das Beste, sich an Profis zu wenden. Ich weiß, ich kenne deine Bedenken und verstehe sie auch. Aber ich bin sicher, es lassen sich zuverlässige Leute finden, die mit dir und nicht gegen dich arbeiten wollen.
Weitere Kostenlose Bücher