Sterben War Gestern
mit dem Gedanken, auch sie zu erschießen. Doch es bestand die winzige Möglichkeit, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatte und der Stick an anderer Stelle war. Dann müsste er sie noch einmal zum Reden bringen. Aber der Mensch hielt das für sehr unwahrscheinlich. Er war sich sehr sicher, dass Ellen Weyer kein Tageslicht mehr zu Gesicht bekäme.
Danach demaskierte er sich, beseitigte seine Spuren, wischte mit einem Tuch trotz der Handschuhe, die er immer trug, das ab, was er angefasst hatte, und steckte alles, was er verschwinden lassen musste, in eine große Plastiktüte. Es wäre die letzte Verbrennungsaktion. Er schaute noch einmal zu den beiden Autos, die er am Vortag sorgfältig durchsucht hatte. Danach hatte er den Geländewagen vor und den Polo hinter dem Anbau geparkt. Es sah ganz danach aus, als würde hier jemand ein zurückgezogenes Wochenende verbringen. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch.
Nun, da der Mensch, der bereits zwei Menschen getötet hatte und dabei war, einen dritten sterben zu lassen, wusste, wo sich das Gesuchte befand, war seine Arbeit getan. Den Rest würden seine Auftraggeber erledigen.
Inge hatte am Telefon besser geklungen als die letzten Tage, sie hatte sich wohl ein wenig eingelebt, was Verónica sehr beruhigte. Leicht war das Gespräch zwischen ihnen hin und her geplätschert und sie hatte keine Veranlassung gesehen, zu erzählen, dass sie kurz zuvor ihre Tanzschuhe ausgegraben hatte. Nun lagen sie vor ihr, ein wenig verstaubt, aber immer noch zeitlos schön. Ausgehen, sich unter fremde Menschen mischen, ein Drink an einer unspektakulären Bar und das Wippen in den Beinen beim Klang lateinamerikanischer Rhythmen – seit sie das Gespräch mit Inge beendet hatte, versuchte Verónica sich davon zu überzeugen, dass sie genau darauf unbändige Lust hätte. Bis zum Abend war der Tag wunderbar gewesen – sie hatte sich treiben lassen, statt zu kochen einen Börek vom Imbiss um die Ecke geholt und dazu keine Bionade, sondern Cola mit Eis und Zitrone getrunken. Sie hatte ein prinzipienfreies Wochenende eingeläutet und zur Feier des Tages einen Prosecco kalt gestellt. Noch beim Duschen hatte sie es kaum erwarten können, das Haus mit Lippenstift zu verlassen, dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie noch einen fände, der nicht ranzig geworden war. Doch nun wollte keine rechte Partystimmung aufkommen. Als ob ihre ganze Energie unbemerkt verströmt wäre, sie zurückließ mit einer Müdigkeit, die frösteln machte.
Verónica erschrak, als es an der Tür klingelte. Es war selten, dass sie Besuch bekam, es konnten eigentlich nur Berger oder Marit sein. Beide wollte sie an diesem Abend lieber nicht sehen. Aber einfach nicht zu öffnen, war nicht ihre Art. Sie wartete einen Augenblick, und als die Klingel ein weiteres Mal ertönte, stand sie vom Boden auf und ging zur Tür.
„Hi.“
Verónicas Herz überschlug sich.
„Hi!“, erwiderte sie vollkommen überrascht. Dann machte sie einen Schritt auf die junge Frau zu und hielt kurz vor der Umarmung unsicher inne. „Kann ich?“
„Lieber andersherum“, sagte sie und schlang beide Arme um Verónica, die ihre Augen schloss und die Nase in den halblangen blonden Haaren vergrub.
Als wäre nichts geschehen. Johanna.
„Willst du reinkommen?“
„Wenn ich nicht störe?“
„Quatsch, du störst doch nie.“ Verónica hielt ihr die Tür auf. „Ich freue mich total.“
Johanna ging langsam, setzte bedächtig einen Schritt vor den anderen. Sie trug eine blaue Jogginghose, einen braunen Kapuzenpulli und strahlend weiße Turnschuhe, als wäre sie gerade die Treppen hinaufgejoggt oder auf dem Weg in eine Sporthalle. Vor der Küche machte sie halt.
„Wohin?“
„Was dir lieber ist: Küchenstühle oder Sofa.“
„Stühle.“
Verónica sah, wie sich ihre Besucherin vorsichtig auf einen der beiden Hocker setzte, die Füße flach auf den Boden stellte und die Hände locker auf die Tischplatte legte. Und dann sah sie auch die Narbe, die zuvor von den Haaren verdeckt gewesen war. Das verwachsene, leicht gerötete und unnatürlich glatte Stück Haut verlief etwa zwei Zentimeter breit vom Ohr über den Hals und verlor sich an der Schulter unter einem weißen T-Shirt.
„Magst du was trinken?“ Verónica versuchte ihr möglichst unbefangen in die Augen zu sehen. „Kaffee? Tee? Rotwein? Limo? Saft?“
„Was trinkst du denn?“
Verónica überlegte kurz. „Immerhin haben wir unser Wiedersehen zu feiern. Wie wär’s mit einem
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