Sterben War Gestern
Bekanntschaft, eine andere strauchelnde Seele, die ihn vergessen lassen könnte, dass er Abschied nehmen musste.
Bald schon schliefe er unter einem städtischeren Mond und glamouröseren Sternen. Man hatte ihm das Dreifache zugesagt, wenn er dafür sorgen würde, dass trotz der Störungen alles glatt weiterliefe; er bekäme einen neuen Pass, eine neue Identität und einen neuen Job im Land seiner Wahl. Das war der Vorteil, für einen großen Konzern zu arbeiten. Geld spielte keine Rolle. Und man konnte jederzeit neu anfangen.
Es gab in den Gehirnwindungen von Ellen Weyer einen winzigen Pfad, auf dem sich ein Überlebensgedanke versuchte durchzuschlagen.
„Nicht trinken!“, vermeldete er in regelmäßigen Abständen.
Anfangs nahm sie ihn nur als Teil einer Kakofonie aus inneren Worten wahr, ließ ihn vorbeiziehen, wie all die anderen nicht zu entschlüsselnden Textschwaden. Je mehr sie trank, umso mehr Durst bekam sie, und je mehr sie von der gelblichen Flüssigkeit zu sich nahm, umso farbiger wurden die Explosionen in ihrem Kopf.
Für den Überlebensgedanken wurde es immer enger, und so traf ihr Gehirn eine allerletzte Entscheidung: Es konzentrierte sich auf ein einziges Wort, das es in regelmäßigen Abständen durch die bunten Halluzinationen schickte: Nein .
Die junge Frau, die auf dem besten Weg war, ihr zentrales Nervensystem zum Erliegen zu bringen, fühlte sich davon gestört. Wie lästige Fliegen erschienen ihr diese vier schwarzen Buchstaben, die sie ganz offensichtlich ärgern wollten. Ausweichen konnte sie ihnen nicht, sie waren zu schnell oder sie war zu langsam, ihr Kopf wog schwer, ihre Hände wollten die Plastikflasche nicht loslassen.
Schön austrinken, sollte sie.
Nein.
Zwischen ihren Beinen wurde es angenehm warm und feucht. War das schön?
Nein.
Ihre Augenlider wogen tonnenschwer. Dahinter tat sich ein Tunnel auf und an seinem Ende war alles gut. Doch sie konnte sich nicht auf die Farbenpracht zutreiben lassen, noch hing sie an einem seidenen Faden fest. Sie musste ihn kappen.
Nein.
Sollte sie noch einmal nach hinten schauen?
Guck mal.
Ein Gesicht. Ein Spiegel. Wer war das? Ellen.
Sieh mich an.
Sie löste langsam die Hände von der Flasche, tastete sich ungelenk über Wangen und Nase, suchte ihre Augen. Dann schob sie mit den Fingern ihre Augenlider nach oben. Warum tat sie das? Der Tunnelausgang rückte in weite Ferne und der Druck ihrer Finger unter den Augenbrauen löste sich. Lass los .
Nein.
Noch einmal nahm sie sich zusammen, öffnete sich die Augen mit den Handballen beinahe schmerzhaft und zwang sich hinzusehen.
Vor ihren ausgestreckten Beinen lag etwas Großes. Sie erschrak und machte sich klein. Dabei fiel ihr die Flasche aus der Hand und der Inhalt ergoss sich über ihre Hose. Sie betrachtete den Fleck und ließ ihre weit geöffneten Pupillen wandern, die sich ein wenig schärfer stellten. Das unförmige Paket war ein Mann.
Jens . Mein Gott, das ist Jens!
Als hätte dieser Name eine Bresche durch das Dickicht geschlagen, tat sich vor ihr ein winziger Moment des klaren, frischen Geistes auf und meldete: Etwas lief hier überhaupt nicht gut. Sie sah noch einmal hin. Da lag Jens Wiskamp, ihr Freund, und ja, sie hatte das schon einmal gewusst, er war tot. Nein , dachte der Überlebensgedanke, der jetzt wieder auf einem besseren Weg war. Jens ist getötet worden. Und dein Leben ist in höchster Gefahr .
Ewald Klee war, nachdem Inge ihm mit einer Geste von der Terrasse aus bedeutet hatte, es könne noch etwas länger dauern, spazieren gegangen. Das Wohngebiet, in dem Lydia Kronberg mit ihrer Familie bis vor wenigen Stunden noch gelebt hatte, zeugte von einem unaufgeregten Wohlstand, der sich nicht gerade durch Individualität hervortat. Die Reihenhäuser unterschieden sich lediglich in der Art der Eingangsbereiche und der Begrenzung der Grundstücke. Den Drei- und Fahrrädern zufolge schienen alle Bewohner Kinder zu haben. Schon beim Anblick dieser Familienidylle mit Gartenschaukel und Sandkasten erfasste Ewald sein schlechtes Gewissen, und die unzähligen Diskussionen mit Grit echoten in seinem Ohr.
„Willst du dich ein Leben lang nur mit dir selbst beschäftigen? Immer nur Verantwortung für deine Geschäfte übernehmen? Da ist dir kein Risiko zu hoch, aber eine Familie zu gründen, das ist dir zu viel!“
Seit Grit die Fünfunddreißig überschritten hatte, war sie geradezu besessen von dem Gedanken, schwanger zu werden, und es verging kein Wochenende, an dem sie
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