Sterbensangst (German Edition)
bremsen. Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
»Sollen wir jetzt Ihre Aussage aufnehmen, Sarge? Am besten, wir bringen es hinter uns. Morgen wird ein Alptraum.«
McAvoy nickt. Er weiß, dass er im Grunde lediglich seine Zeugenaussage und ein überschätztes Archivsystem in diese Ermittlung mit einbringt. Immerhin hat er einen Fuß in der Tür. Die Chance, etwas Gutes zu tun. Einen Killer zur Strecke zu bringen. Er lässt seine Gedanken zum Nachmittag zurückschweifen. Zu dem Chaos und dem Blutvergießen in der Kirche. Zu dem Moment, als der maskierte Mann in der Kirchentür auftauchte und ihm in die Augen sah.
»Irgendwelche besonderen Kennzeichen, Sarge?«, fragt Nielsen ohne große Hoffnung. »Irgendetwas, das Sie wiedererkennen würden?«
McAvoy schließt die Augen. Lässt das maskierte Gesicht in sein Blickfeld treiben. Blendet die kalte, nach Schnee riechende Luft und die Schreie der Passanten aus. Konzentriert sich ganz auf einen einzigen Augenblick. Ein einziges Bild. Eine einzige Szene.
»Ja«, sagt er in dem plötzlichen Gefühl, dass dieses Detail wichtig ist. »Er hatte Tränen in den Augen.«
Er starrt in die blaue Iris vor seinem geistigen Auge. Bildet sich ein, sein eigenes Spiegelbild in den nassen Linsen zu erkennen. Seine Stimme dringt aus einem trockenen Mund und ist kaum mehr als ein Hauch.
»Warum hast du geweint? Um wen hast du geweint?«
Kapitel 5
Das Haus liegt im Norden der Stadt, ganz am östlichen Rand – dreimal links und einmal rechts am Ende des neuen Baugebiets. Von Großunternehmen errichtet für Erstkäufer, nach Plänen, die ein Kind mit einem Blatt kariertem Papier und einer Schachtel Monopolyhäuser hätte entwerfen können.
Drei Schlafzimmer. Schachbrettfliesen. Ein Hinterhof mit neun Quadratmeter Patio auf recycelten Eisenbahnschwellen. Gestaltet nach dem langweiligen, trostlosen Geschmack eines Vermieters, der den Kauf über einen Makler getätigt hat und noch nie persönlich hier war.
Zuhause, denkt McAvoy, müde bis auf die Knochen, als er schläfrig den Van am Rinnstein parkt. Seine Frau erwartet ihn schon, eingerahmt wie ein Filmstar im quadratischen Frontfenster, und wiegt seinen Sohn in den Armen, während sie Papa zuwinken.
Es ist spät. Zu spät eigentlich für Fin, um noch auf zu sein. Jetzt wird er wieder die ganze Nacht unermüdlich auf Mamas und Papas Bett Trampolin springen und Papas Schuhe anprobieren wollen, um damit auf dem Linoleum in der Küche herumzustapfen, während er imaginäre Monster zerquetscht.
Das hat sie seinetwegen getan. Den Kleinen ein Nickerchen machen lassen, damit er jetzt wieder frisch und munter ist und Papa ein gutes Gefühl gibt, wenn er endlich vom Revier nach Hause kommt, die Gedanken schwer und abgestumpft von der Unerbittlichkeit, mit der sie in seinem Schädel herumgeschwirrt sind.
Roisin macht ihm die Tür auf, und McAvoy weiß nicht, wen er zuerst küssen soll. Er breitet die Arme aus und umarmt sie alle beide. Spürt den harten Druck von Fins Kopf an seiner Wange. Roisins Lippen, weich und warm und unvergleichlich süß an der anderen. Hält sie beide fest. Fühlt Roisins Hand über seinen Rücken streichen. Nimmt ihre Wärme in sich auf. Spürt, wie sie seinen Duft einatmet.
»Es tut mir leid«, sagt er und weiß nicht so genau, ob es an sie gerichtet ist oder an den Jungen oder das Universum im Allgemeinen.
Schließlich löst er sich von ihnen. Roisin weicht einen Schritt zurück, und er betritt die kleine Diele am Fuß der Treppe. Während er die Tür hinter sich zustößt, dreht Roisin sich zu ihm um und wischt dabei das Bild von der Wand, dass er selbst beinahe jede Nacht heruntergeworfen hat, seit sie in dieses, ihr erstes ›richtiges‹ Haus vor zwei Jahren eingezogen sind. Sie kichern wie über einen privaten Scherz, während er das Bild ungeschickt wieder an den Haken zu hängen versucht. Es ist die Bleistiftzeichnung einer Hügellandschaft, ausgeführt mit unsicherer Hand. Sie hat McAvoy einmal viel bedeutet, damals, als Bilder aus seiner Kindheit noch der Inbegriff für glückliche Zeiten waren. Jetzt ist das nicht mehr so wichtig. Nicht seit Fin. Nicht seit Roisin.
Natürlich ist sie schön. Schlank und dunkelhaarig, mit einer Haut von fast sandgestrahlt glatter Bräune, die ihre Herkunft verrät. Gemischtrassig hatte sein Vater gesagt, als er sie zum ersten Mal sah, aber er meinte es nicht böse.
Sie trägt einen eng anliegenden Jogginganzug, und das Haar fällt ihr bis auf die Schultern. Heute
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