Sterbensangst (German Edition)
hängt nur ein kleines Paar Kreolen an ihren Ohren. Früher trug sie sie reihenweise, eine über der anderen auf beiden Seiten, aber Fin hat eine Vorliebe dafür entwickelt, an ihnen zu ziehen, und daher hat sie diesen Schmuck in den letzten Monaten reduziert. Mit dem Gold, das an ihrer Kehle glitzert, ist es ähnlich. Sie hat zwei Ketten um den Hals gelegt. An einer hängt ein Kupfertäfelchen, auf dem ihr Name eingraviert ist: ein Geschenk ihres Vaters zum sechzehnten Geburtstag. Die andere trägt eine schlichte Perle, einen eingefangenen Regentropfen, den McAvoy ihr in der Hochzeitsnacht als zusätzliches Geschenk präsentiert hat, für den Fall, dass sein Herz nicht genügte.
Ungefragt überreicht sie Fin seinem Vater. Der Kleine strahlt, reißt den Mund zu einem großen O auf und fängt an, McAvoys Gesichtsausdruck nachzuäffen. Sie runzeln die Stirn, grinsen, tun so, als würden sie weinen, und schnappen nacheinander wie Filmmonster, bis sie beide lachen müssen und Fin vor Aufregung zu strampeln beginnt. McAvoy setzt ihn ab, und der Kleine rennt mit seinem o-beinigen Cowboygang davon, einfach anbetungswürdig in seinen Bluejeans, dem weißen Hemd und der winzigen Weste, während er in seiner selbsterfundenen Sprache vor sich hin plappert, die McAvoy so gerne besser verstehen würde.
»Du hast damit gewartet«, sagt er mit einem Blick durchs Wohnzimmer. Roisin hatte vorgehabt, die Weihnachtsdekoration heute anzubringen. Sie haben einen Plastikbaum, eine Schachtel mit Christbaumkugeln und ein halbes Dutzend Weihnachtskarten, um sie an einem Draht über der Imitation eines offenen Kamins aufzuhängen, aber alles liegt noch in einem Karton neben der Küchentür.
»Ohne dich hätte es doch keinen Spaß gemacht«, sagt sie. »Wir machen es ein andermal. Alle gemeinsam.«
McAvoy zieht den Mantel aus und wirft ihn über einen Sessel. Roisin kommt wieder in seine Arme, um ihn ohne den dicken Regenmantel besser spüren zu können. Ihr Scheitel reicht ihm bis zum Kinn, und er beugt sich vor, um ihn zu küssen. Ihr Haar duftet nach Gebäck. Wie etwas Süßes und Festliches. Pastetchen vielleicht.
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, beginnt er, aber sie bedeutet ihm zu schweigen und zieht seinen Mund zu sich herunter. Ihre Lippen schmecken nach Kirschen und Zimt. Eingerahmt vom Fenster stehen sie da, Mund auf Mund, bis Fin ins Wohnzimmer zurückgerannt kommt und anfängt, seinem Vater mit einer hölzernen Kuh ans Bein zu schlagen.
»Die hat Opa mir geschickt«, sagt Fin und hält das Spielzeug in die Höhe. »Kuh. Kuh.«
McAvoy nimmt seinem Sohn die Kuh aus der Hand. Untersucht sie. Er erkennt die Arbeit. Vor seinem geistigen Auge sieht er seinen Vater, Brille, Späne, Stechbeitel und Holzhammer, fingerlose Handschuhe, wie er mit halb geöffnetem Mund am Tisch sitzt und kein Detail auslässt, während er seinen hölzernen Spielzeugen Leben einhaucht.
»Hat er auch etwas geschrieben?«
»Nur das Übliche«, sagt Roisin, ohne aufzusehen. »Er hofft, dass Fin groß und stark wird. Brav sein Gemüse isst. Immer ein guter Junge ist. Wünscht sich, ihn bald einmal zu sehen.«
McAvoys Vater richtet seine gesamte Korrespondenz an den Kleinen. Er hat mit seinem einzigen Sohn nicht mehr gesprochen, seit sie um die Zeit, als Roisin schwanger wurde, einen Streit hatten. Und McAvoy weiß, dass er stur genug ist, um dieses Zerwürfnis ohne den Versuch einer Versöhnung mit ins Grab zu nehmen. Wäre er ein nachtragenderer Mensch, würde er sich fragen, was der blöde alte Knacker sich eigentlich vorstellt, wer seinem vier Jahre alten Enkel die Briefe vorliest. Aber er hat es sich antrainiert, solche verräterischen Anwandlungen von sich wegzuschieben.
McAvoy lässt die Finger über die sanften Rundungen des Spielzeugs gleiten. Versucht, etwas von der Weisheit und Erfahrung des alten Mannes durch den Gegenstand, den er in der Hand hält, in sich aufzunehmen. Doch die Fragen bleiben unbeantwortet. Er gibt seinem Sohn die Kuh zurück, und der Kleine rennt davon. McAvoy sieht ihm nach, dann wendet er sich mit schuldbewusstem Ausdruck wieder zu Roisin.
»Du bist losgelaufen, als du die Schreie gehört hast, Aector. Du hast das getan, was du immer tun würdest.«
»Aber was sagt das über mich? Dass ich mich eher um einen Fremden kümmern würde, als meinen eigenen Sohn zu beschützen?«
»Es zeigt, dass du ein guter Mensch bist.«
Er lässt den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Hier hat er alles, was er will. Seine
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