Sterbensschön: Thriller -
Gretchen.
»Tja, sehen Sie, Engelsgesicht, Sie verarschen mich«, sagte Henry. »Das macht es mir sehr schwer, Sie ernst zu nehmen.«
»Ich habe gehört, Sie wären beinahe gestorben«, sagte Gretchen. »Das muss hart für Sie sein. Wenn sich ein Mann, der so auf seine Kraft setzt, auf eine kleinere Version seiner selbst reduziert sieht. Hat man Ihnen erzählt, Sie würden vollständig genesen?« Sie spähte wieder an Henrys Schulter vorbei und lächelte Archie teuflisch an. »Das war gelogen.«
Henry ließ den Kopf hängen.
Archie legte seinem Freund eine Hand auf den Rücken und stand auf. »Das reicht«, sagte er zu Gretchen. Er stellte sich hinter ihren Rollstuhl. Das Foto war in der Innentasche seiner Jacke. Er holte es hervor, kauerte sich neben Gretchen und zeigte ihr das Bild. »Ich glaube, das bist du«, sagte er.
Ihr Blick wanderte langsam über sein Gesicht und seine Brust und kam dann auf dem Bild zu ruhen. Sie machte keine Bewegung. Archie konnte sie atmen hören. »Das ist ein Schatten«, sagte sie.
»Ich habe ein anderes Foto gesehen«, sagte Archie freundlich. Er legte den Finger auf den Jungen in dem Bild. »Eins, bei dem er die Aufnahme macht.« Jenes Mädchen war dürr gewesen, mit einer flachen Brust und dunklem Haar. Es hatte die Schultern hängen lassen und versucht, möglichst wenig Platz einzunehmen. Keine Spur von der Centerfold-Serienmörderin. »Du musst hart an deiner Neuerfindung gearbeitet haben«, sagte Archie.
»Und schau sie dir jetzt an«, sagte Henry trocken. »So ein Hingucker.«
Archie studierte Gretchen, forschte nach Antworten, nach einem kleinen Anzeichen für ein Wiedererkennen, einem Funken Emotion. »Was waren sie für dich?«, fragte er.
Sie sah auf und suchte seinen Blick. Ihr Kopf schwankte ein wenig. Archie erkannte, wie viel Anstrengung es ihr abverlangte, mit all den Medikamenten im Blut funktionstüchtig zu erscheinen. Doch die Hinweise waren da – geschwollene Augenlider, Hängebacken, schwere Gliedmaßen. Sie war erschöpft. Das Haar, das an ihrem Mundwinkel festklebte, flatterte, wenn sie ausatmete.
»Machst du mir die Haare aus den Augen?«, bat sie.
Archie zögerte nur eine Sekunde, dann streckte er die Hand aus, strich ihr das Haar aus der Wange und steckte es hinter ihr Ohr. Er streifte ihr Ohrläppchen mit den Fingerspitzen, und die Berührung pflanzte sich seinen Arm hinauf fort.
Ohne das Haar lag ihr Gesicht jetzt gänzlich frei. Selbst mit dem zusätzlichen Gewicht, der entzündeten Haut und den verklebten Lidern und Mundwinkeln konnte er noch hübsche Züge an ihr entdecken. Er fragte sich, wie lange das wohl anhalten würde. Wie viele Jahre an diesem Ort würden nötig sein, bis er sie ansehen konnte, ohne sich körperlich zu ihr hingezogen zu fühlen.
»Gib uns eine Minute«, sagte er zu Henry.
Henry rührte sich nicht.
Archie drehte sich zu ihm um. Er schaffte das. Henry musste ihm nur trauen. »Es ist gut«, sagte Archie. »Sie ist an einen Stuhl gefesselt. Ich denke, ich komme klar.«
Henry stieß ein höhnisches Schnauben aus. Er machte einen Schritt, wobei er nur leicht zusammenzuckte, als er das Gewicht auf das verletzte Bein verlagerte. »Ich bin direkt vor der Tür«, sagte er. Dann hielt er inne und beugte sich noch einmal zu Gretchen hinunter. »Sie sehen fantastisch aus, Süße«, sagte er. »Machen Sie unbedingt so weiter.«
Gretchen blickte starr geradeaus.
Henry lachte. »Hat Spaß gemacht«, sagte er. Er lächelte immer noch, als er den Raum verließ.
Als sich die Tür schloss, saßen die beiden allein da. Die Lederriemen, die Gretchens Handgelenke an den Stuhlarmen festhielten, waren mit Lammfell gefüttert und wurden mit einer Schnalle geschlossen wie ein Gürtel. Ihre Arme waren blass und voll blauer Flecken. Archie wusste nicht, wie viel sie zugenommen hatte. Ihre Oberschenkel dehnten sich breiter auf der Sitzfläche aus. Ihre Hüften wirkten ausladender. Der ehedem flache Bauch war gerundet. Selbst ihr Hals und ihr Gesicht wirkten fülliger. Ihre Brüste waren voller als früher, sie war insgesamt weicher geworden. Aber ihre Figur war noch da. Sie zog ihn immer noch an.
Er wünschte, sie würde schlimmer aussehen. Er wollte sie ansehen und nichts empfinden.
»Denkst du dir neue Möglichkeiten aus, mir wehzutun?«, sagte Gretchen.
»Du bist die Expertin«, sagte Archie. »Du hast mir alles beigebracht, was ich weiß.«
»Ich dachte nicht, dass es dir so gut gefallen würde«, sagte sie.
Archie antwortete nicht.
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