Sterbenswort: Thriller (German Edition)
waren.
Amelie agierte in gespenstischer Stille, Kathrin hörte lediglich das ferne Ticken der Uhr.
Jetzt beugte sich Amelie nach vorn, hob gleichzeitig den Kopf an und küsste den Leichnam. Kathrin kam es wie ein verzweifelter Versuch vor, dem Toten wieder den Odem des Lebens einzuhauchen. Sie fühlte sich schuldig.
Nachdem Erik sich immer noch nicht rührte, schien Amelie endlich zu begreifen.
Ein tiefes Röcheln, dann ein geräuschvolles Luftholen.
Schluchzend sprach sie mit Erik.
Kathrin konnte die Worte nicht verstehen. Sie vernahm nur ein langgezogenes, auf- und abschwellendes Wehklagen.
Tränen tropften hinab, benetzten Eriks Stirn.
Amelie beugte sich nach vorn, griff mit beiden Armen unter Eriks Schultern und zog ihn zu sich heran, stützte mit der Handfläche seinen Kopf. So schaukelte sie vor und zurück. Ihr Jammer schien endlos. Kathrin hatte ihr Zeitgefühl längst verloren. Aber sie bemerkte, dass weder Heinrich noch Thomas die Kraft besaßen, das Geschehen zu verfolgen.
Nach einer Ewigkeit des Hin- und Herwippens bettete Amelie Erik zurück in seine vorherige Position.
Sie nahm Eriks Hand in die ihre, verharrte so und ließ sie wieder los. Dann wandte sie sich um, sah nach oben, zu den beiden Männern, die schon vorbeugend ihrem Blick ausgewichen waren, danach zu Kathrin.
Kathrin las die Fragen »Wie?« und »Warum?« in Amelies Augen.
Sie spürte das Verlangen nach Trost, nach Nähe und Halt.
Kathrin ging hinab in die Knie, umschlang die Trauernde mit ihren Armen und drückte sie fest an sich. Amelie nahm es dankbar an, erwiderte die Umarmung und legte ihren Kopf auf Kathrins Schulter. Kathrin spürte Nässe.
Stützend griff sie Amelies Hinterkopf und begann sie nun selbst sanft zu schaukeln.
Es tut mir leid, meldete sich ihre innere Stimme.
Dann dachte sie den Satz noch einmal.
Beim dritten Mal sprach sie ihn leise aus.
Eine weitere Ewigkeit verging.
Heinrich brach die Trauer: »Es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall.«
Und Kathrin wiederholte, dass es ihr leidtäte.
»Der Wodka. Die Drogen«, sagte Heinrich.
Amelie reagierte nicht.
»Er ist aufgestanden, dann sagte er, ihm sei schwindlig.«
Heinrich machte eine Pause, ehe er weitererzählte.
»Es ging alles so schnell. Er schwankte. Dann sackte er mit einem Mal zur Seite. Er riss das Stativ um und knallte direkt mit dem Kopf auf die Kamera.«
Kathrin spürte, dass Amelie leicht den Kopf drehte, um die klobige VHS -Kamera anzusehen.
»Er muss sofort tot gewesen sein«, log Kathrin und erinnerte sich an Eriks zuckenden Körper, seine schreienden Augen.
»Vom Sturz auf eine Kamera?«, flüsterte Amelie.
»Er ist sehr unglücklich gefallen.« Kathrin streichelte der Freundin übers Haar. »Die Kamera ist durch die Schädeldecke gedrungen und hat entweder eine Gehirnblutung ausgelöst oder wichtige Teile des Gehirns zerstört. Genau lässt es sich ohne Untersuchung nicht sagen.«
»Nein«, widersprach Amelie.
Kathrin nickte und baute darauf, dass Amelie ihre Bewegung wahrnahm.
Heinrich mischte sich ein.
»Kathrin hat erzählt, dass sie einen ähnlichen Fall in der Charité erlebt hatte, bei ihrem Praktikum.«
»Es ist sehr unwahrscheinlich, aber so etwas passiert, immer wieder«, bestätigte Kathrin.
»Aber er kann doch nicht einfach …«
»Er ist tot, Amelie.«
»Vielleicht, wenn wir einen Krankenwagen rufen?«
»Er ist tot, Amelie«, wiederholte Kathrin.
»Aber wir müssen doch etwas tun.«
»Wir können nichts mehr für ihn tun, Amelie.«
»Amelie«, meldete sich Heinrich zu Wort. »Wir haben ein weiteres Problem.«
Die Angesprochene reagierte nicht.
»Eigentlich müssten wir es der Polizei melden.«
Amelie schwieg weiter, ihr Kopf ruhte immer noch auf Kathrins Schulter.
»Das können wir aber nicht.«
Kathrin bemerkte, dass Heinrich sie gequält und hilfesuchend anblickte, doch sie unterstützte ihn nicht, ließ ihn selbst weiterargumentieren.
»Wegen der Drogen.«
Er rang nach Worten.
»Wir können den Rest hier wegwerfen, aber sie sind in unserem Blut.«
Klack, klack, klack, klack.
Heinrich blickte irritiert zu Thomas’ Fingern, dann fuhr er fort: »Die Polizei wird sicherlich Eriks Blut untersuchen, und dann auch unseres.«
Seine Stimme wurde flehend.
»Amelie, du weißt, welchen Aufstand mein Vater gemacht hat, als ich im Osten in eine WG ziehen wollte. Wenn er jetzt erfährt, dass ich LSD genommen habe … Er streicht mir sämtliche Geldmittel. Ich kann mein Jura-Studium vergessen, und
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