Sterbenswort: Thriller (German Edition)
Ich wollte das nicht. Es wäre einfach unfair gewesen, wenn es auch noch mein Leben zerstört hätte.«
Wie oft hatte sie seinerzeit diese Sätze gehört. Sie hatte damals als falsch empfunden, was sie getan hatten, und sie empfand es auch heute noch als falsch.
Sie glaubte, ein Glitzern in Heinrichs Augenwinkel zu erkennen. Dies alles schien ihn mehr zu belasten, als er zugab.
Seine Fassade bröckelte.
»Ich habe Angst um Nina.«
Kathrin sah ihn fragend an.
»Der E-Mail-Schreiber – ich weigere mich, ihn Erik zu nennen – bedroht sie.«
Kathrins Gedanken wanderten zu Mia. Auch sie war in Sorge um ihre Tochter.
»Vielleicht sollten wir mit Amelie und Thomas Kontakt aufnehmen.«
Heinrich nickte zustimmend und wischte sich eine einzelne Träne aus dem Gesicht.
Danach spielte er wieder seine Rolle.
15
Neulich
Z urückbleiben, bitte.«
Die Türen des U-Bahn-Waggons schlossen sich.
Obwohl die meisten der Passagiere starr auf den Boden, in ihre Zeitung oder ihr Buch blickten, nahmen sie den Mann wahr, der soeben eingetreten war: Er war deutlich zu riechen.
Wie lange er sich nicht gewaschen oder die Kleidung gewechselt hatte, war wohl eher in Wochen zu schätzen als in Tagen.
Er platzierte seine Lidl-Tüte neben sich, dann nahm er Aufstellung im Mittelgang zwischen den Sitzreihen.
Als der Zug angefahren war, räusperte er sich und ergriff lautstark das Wort.
»Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an!«
Der eine oder andere riskierte nun doch einen kurzen Blick auf die Gestalt, die sich zu ihnen gesellt hatte.
Schwer zu sagen, wie alt der Mann sein mochte. Er wirkte verbraucht, sein Gesicht unrasiert, eine frische Narbe auf der linken Wange, über dem linken Auge eine Beule, das Auge selbst nur halb geöffnet. Bedachte man, dass manche Männer bereits mit Anfang zwanzig ihr Haar verloren, mochte der beinahe Glatzköpfige möglicherweise erst dreißig sein, vielleicht war er aber auch schon über fünfzig. Er bewegte sich träge, die Feinmotorik schien unausgeglichen. Dies mochte man gerne einer Trunkenheit zuschreiben, doch es war keine Alkoholfahne zu riechen.
Wer den Mann ansah, blickte sofort wieder beschämt dorthin zurück, wo sein Augenmerk bis gerade eben noch geruht hatte.
»Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie; das Gute wird mit ihnen oft begraben. So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus hat euch gesagt, dass er voll Herrschsucht war; und war er das, so war’s ein schwer Vergehen, und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.«
Die Hochbahn ratterte weiter durchs dämmernde Kreuzberg.
Bis zum Eintreten des Fremden hatten sich die drei Jugendlichen – zwei blond, der dritte dunkelhaarig und vermutlich türkischstämmig – mit einem iPod beschäftigt. Nur ein Paar Ohrstöpsel für drei Personen hatte für lautstarke Diskussionen gesorgt. Die anderen Passagiere hatten versucht, die Streitigkeiten zu ignorieren, um nicht die Aufmerksamkeit der drei Halbstarken auf sich zu ziehen.
Plötzlich schien der iPod nicht mehr so wichtig.
Sie beobachteten nun den mysteriösen Fremden.
»Komm ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden. Er war mein Freund, war mir gerecht und treu; doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war, und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.«
Parallel dazu erklang die Meldung aus dem Lautsprecher: »Prinzenstraße.«
Die U-Bahn verlangsamte.
Die drei Jugendlichen sahen sich an und begannen zu grinsen.
Der Türkischstämmige stopfte den iPod in die Tasche seiner Jacke, dazu die Ohrstöpsel und das Kabel. Dann lehnte er sich demonstrativ zurück und beobachtete die Szenerie, die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
Der Wagenzug hielt an – niemand stieg aus oder ein – und fuhr wieder los.
»Die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn. Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war, und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.«
Einer der beiden Blonden stand nun auf, stellte sich ebenfalls zwischen die Sitzreihen, dem Mann gegenüber. Er imitierte dessen Körperhaltung, äffte ihn in Mimik und Gestik nach, bewegte die Lippen, während der Mann sprach.
»Ihr alle saht, wie am Lupercusfest ich dreimal ihm die Königskrone bot, die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht? Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war, und ist gewiss ein ehrenwerter Mann.«
Der Obdachlose holte Luft, rezitierte dann weiter seinen Shakespeare: »Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen; ich spreche hier von dem nur,
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