Sterbenswort: Thriller (German Edition)
weitersprach. »Nichts läge mir ferner, als euch zu brüskieren, doch auch der Königin gilt meine Treue. Und so verboten mir meine Liebe zu Gott und mein Gewissen, eurer Einladung zur Krönungszeremonie eurer Mätresse Anne Boleyn Folge zu leisten.«
Ein kleiner Junge näherte sich dem Mann, stellte sich unterhalb des Mauervorsprungs und sah zu ihm auf. Er bohrte dabei in seiner Nase.
»Und zu euch, Schatzkanzler Cromwell, der ihr mir alsbald auf das Schafott folgen werdet: Nein, ich werde den Eid auf die Suprematsakte nicht ablegen. Mein Kampf richtete sich zeit meines Lebens gegen Häresie und Ketzerei. Führte mich dieser Kampf in den eigenen Untergang, so vertraue ich auf Gott und seinen Stellvertreter in Rom.«
Die Mutter des Jungen rauschte heran, packte ihn bei der Hand und zog ihn mit sich.
Der Mann auf dem Mauervorsprung ignorierte das Weinen des Jungen.
»Wenn Völlerei und Wollust die Sinne vernebeln, gebiert der Mensch Tod und Verderben. Warum, mein König, warum hörtet ihr nicht auf mich?«
Die Passanten, die zu Beginn aufmerksam und neugierig gelauscht hatten, waren längst weitergezogen.
Der Mann auf dem Mauervorsprung redete und redete und blieb dabei einsam und verlassen in einem Meer von Menschen zurück.
26
Heute
K athrin konzentrierte sich auf den Straßenverkehr, dennoch blickte sie wiederholt zu ihrer Freundin.
Im Laufe der Fahrt zu Thomas’ Eltern beruhigte sich Amelie ein wenig.
Noch am Tag zuvor hatte Kathrin versucht, Amelie zu überzeugen, dass Erik am Leben sein könnte, und war dabei auf strikten Widerspruch gestoßen.
Jetzt lag es an ihr, ihre Beifahrerin zu besänftigen, sie zu einer gewissen Form von Sachlichkeit zu gemahnen. Zumindest solange sie im Hause der Pfeiffers sein würden. Keinesfalls sollten Thomas’ Eltern bemerken, wie aufgelöst die beiden Freundinnen waren.
Kathrin lenkte ihren Wagen zum Pfeifferschen Einfamilienhaus in Lichtenrade.
Den kleinen Vorgarten konnte man nicht gerade als gepflegt bezeichnen. ›Verwildert‹ wäre jedoch ebenso wenig der richtige Ausdruck gewesen. Bereits bei ihrem ersten Besuch hatte ihn Kathrin in die Kategorie ›lieblos‹ eingestuft.
Es gab weder Gartenzaun noch -tor, und so gingen die beiden Frauen schnurstracks zur Haustür und klingelten. Amelie wischte sich eine letzte Träne aus dem Gesicht und atmete hörbar ein und aus.
Der Mann, der öffnete, schleppte einige Pfunde zu viel mit sich herum.
»Ja, bitte?«, fragte Alfred Pfeiffer und kniff dabei die Augen zusammen.
»Kathrin und Amelie, wir sind alte Freundinnen von Thomas.«
Nach einer kurzen Pause ergänzte Kathrin: »Ich hatte gestern Nachmittag mit Ihrer Frau gesprochen.«
»Ja, kommen Sie rein.«
Er schob sich aus dem Eingang und machte die Sicht frei auf eine ebenfalls übergewichtige Frau, die neugierig aus einem Türrahmen herüberstarrte. Sie wischte sich gerade die Hände an ihrer Schürze trocken. Danach verschwand sie – nur um kurz darauf ohne Schürze zurückzukehren und die beiden Besucherinnen zu begrüßen.
Kathrin wunderte sich, denn wenn sie an Thomas zurückdachte, dann sah sie ihn immer als einen regelrechten Hungerhaken vor sich.
Abgesehen davon, dass Frau Pfeiffers blaue Augen sie vage an Thomas erinnerten, schienen auf den ersten Blick weder vom Vater noch von der Mutter irgendwelche Gene auf den Sohn durchgeschlagen zu haben.
»Kommen Sie doch ins Wohnzimmer«, sagte Marlies Pfeiffer, und ihr Mann deutete ins hintere Ende des Flurs, der vollgestellt war mit allem möglichen Krimskrams: Urlaubsandenken, Plüschtiere, Bücher, Zinnkrüge, Überraschungseierfiguren, Weihnachts- und Osterdekorationen. Ein wildes Sammelsurium, ohne erkennbares System.
Auch im Wohnzimmer gab es keine freie Wand, überall standen Regale. Lediglich an einer Stelle entdeckte sie eine Tapete, die bereits in den Achtzigern unmodern gewesen war: großformatige stilisierte Blumen in orangen und dunkelbraunen Farbtönen.
Kathrin atmete ein – und hustete.
Allergiker konnten die Pfeiffers nicht sein. Sonst hätten sie es keine Minute im eigenen Haus ausgehalten.
Der Geruch hier erinnerte Kathrin an den von Amelie, nur weitaus intensiver.
Amelie schien sich weder über die Eltern noch über die Einrichtung zu wundern. Vermutlich war sie Ähnliches aus dem Seniorenheim gewohnt, in dem sie arbeitete. Herr Pfeiffer bot ihnen Sessel an, und Amelie nahm Platz. Kathrin tat es ihr gleich und glaubte, sie würde darin versinken. Entweder mussten die Federn
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