Sterbenswort: Thriller (German Edition)
ausgetauscht werden oder der ganze Sessel.
Die Laute, die Herr Pfeiffer von sich gab, als er sich ebenfalls setzte, ließen Kathrin vermuten, er käme nie wieder ohne fremde Hilfe hoch. In Gedanken sah sie sich bereits, wie sie Thomas’ Vater – gemeinsam mit Amelie und Frau Pfeiffer, eine von hinten, zwei an den Armen ziehend – aus dem Sessel zerrte.
»Ich habe uns einen Tee gemacht«, sagte Frau Pfeiffer freundlich. »Sie mögen doch hoffentlich Hagebutte?«
»Aber ja«, antwortete Amelie. »Sehr gerne. Vielen Dank.«
Thomas’ Mutter stapfte hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Tablett zurück, das sie auf den Wohnzimmertisch stellte. Sie schenkte drei Tassen ein, zwei für die Besucherinnen, eine für sich selbst. Herr Pfeiffer schien keinen Tee zu mögen.
Dann setzte sich Marlies Pfeiffer – nicht weniger geräuschvoll als ihr Mann – und lehnte sich zurück. Ihr Sessel ächzte.
»Wir bekommen sehr selten Besuch«, begann sie.
Vom Tonfall her klang das für Kathrin wie eine Art Entschuldigung. Anscheinend war sie sich des Zustands von Haus und Garten durchaus bewusst.
»Danke, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben«, sagte Kathrin.
»Wir haben immer Zeit«, brummte Herr Pfeiffer.
»Wir hatten die Hoffnung, dass Sie etwas von Thomas wissen.« Frau Pfeiffers Augen spiegelten eine gewisse Erwartungshaltung wider.
Kathrin tat es leid, das Ehepaar enttäuschen zu müssen.
»Aus dem gleichen Grund sind wir hier. Wir wollten gerne mit Thomas sprechen, die alte Freundschaft auffrischen.«
Sofort begannen Marlies Pfeiffers Augen feucht zu glänzen.
»Wir haben seit drei Jahren nichts mehr von ihm gehört.«
Alfred Pfeiffer runzelte die Stirn, schien kurz zu überlegen und korrigierte seine Frau dann: »Viereinhalb Jahre muss das schon her sein. Es war an Weihnachten.«
»Ja, direkt an Heiligabend. Mein Mann und ich hatten es uns eben am Weihnachtsbaum gemütlich gemacht und uns eine Tasse Glühwein eingeschenkt. Da klingelte es plötzlich an der Tür. Nanu, dachte ich, Besuch an diesem Tag? Draußen stand Thomas. Zuerst hatte ich ihn gar nicht erkannt. Unrasiert, abgemagert, die Kleidung schmutzig. Er zitterte am ganzen Körper.«
Kathrin erschrak; sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt.
Marlies Pfeiffer nahm einen Schluck Tee; es fiel ihr sichtlich schwer, zu berichten.
»Ich griff mit meiner Hand an seine Stirn. Er hatte hohes Fieber.«
»Wir haben ihn erst mal in die Badewanne gesteckt«, mischte sich nun Alfred Pfeiffer ein, »und dann ab ins Bett.«
»Die beiden Weihnachtsfeiertage war er überhaupt nicht ansprechbar. Wir haben sogar einen Notarzt kommen lassen, aber es schien zum Glück nichts Ernsthaftes zu sein. Er hatte wohl mitten im Winter mehrere Nächte im Freien verbracht, und das waren nun die Folgen.«
Kathrin suchte Augenkontakt zu Amelie. Die Freundin schien ebenso fassungslos wie sie selbst.
»Meine Frau hat ihn regelrecht aufgepäppelt. Keine Sekunde ist sie ihm von der Seite gewichen. Und wie hat er es dir gedankt?«
Marlies Pfeiffer schluckte.
»Er ist einfach wieder verschwunden. Genau an Silvester. Exakt eine Woche war er hier bei uns.«
»Hatten Sie ihm nicht angeboten, wieder bei Ihnen zu wohnen?«, fragte Kathrin.
Sie hatte große Mühe, überhaupt zu begreifen, was ihr berichtet wurde.
»Aber selbstverständlich«, antwortete Frau Pfeiffer entrüstet. »Ich hatte ihm ja sein früheres Jugendzimmer wieder hergerichtet.«
»Er hat ihre Bitten einfach ignoriert«, sagte Alfred. »Hat nicht ja und nicht nein gesagt. Am Vormittag von Silvester sind wir noch einmal los, um einzukaufen. Als wir wieder nach Hause kamen, war er verschwunden. Es fehlte nichts, weder Wertgegenstände noch Geld noch Alkohol. Er hat nur die Sachen mit sich genommen, mit denen er eine Woche zuvor aufgetaucht war.«
Kathrin sah, dass Amelies Hand zitterte. Amelie setzte rasch die Teetasse ab, ehe etwas überschwappen konnte.
»Und Sie wissen nicht, wo er hin ist?«
Marlies Pfeiffer senkte den Blick und schüttelte schweigend den Kopf.
»Wir wissen nicht einmal, ob er noch am Leben ist.«
»Aber … Ich begreife das nicht«, fuhr Kathrin fort.
Und als niemand darauf einging, ergänzte sie: »Er ist doch so ein intelligenter Mensch. Er kannte sämtliche Kaiser des Römischen Reichs auswendig, mitsamt den Jahreszahlen ihrer Regierungszeiten. Alle Daten des Dreißigjährigen Kriegs, der Französischen Revolution …«
Kathrin
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