Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
sie lautstark gegeneinanderzuschlagen, als wollte er sie zertrümmern. Als ihm das nicht gelang, warf er sie scheppernd auf den dunklen Laminatboden. Der Mann mit dem Handy warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung der Mutter, die jedoch weiter in ihre Zeitschrift vertieft war. Das hyperaktive Verhalten des Jungen zerrte auch an Svens strapazierten Nerven. Einem Kleinkind hätte man dieses Benehmen verziehen, aber der Junge war mindestens fünf Jahre alt, da konnte man doch ein bisschen Disziplin erwarten. Und die Gleichgültigkeit der Mutter machte alles noch schlimmer. Als der Junge schließlich anfing, die restlichen Zeitschriften zu zerfleddern und um den Tisch herum auf dem Boden zu verteilen, platzte Sven schließlich der Kragen.
»Könnten Sie sich vielleicht mal um Ihr Kind kümmern, bevor es die Praxis vollkommen auseinandernimmt?«, schrie er die Frau an, die daraufhin erschrocken von ihrer Zeitschrift auffuhr und ihn empört ansah. Das Gesicht des Kindes verzog sich zu einer weinerlichen Grimasse. Noch bevor die ersten Tränen über das Gesicht des Jungen liefen, meldete sich bereits Svens schlechtes Gewissen zu Wort.
»Hören Sie …«, seufzte er kleinlaut. »Es … Es tut mir leid. Ich wollte nicht …« Verzweifelt suchte Sven in den Gesichtern der beiden anderen Männer so etwas wie Zuspruch, doch auch das half nicht gegen dieses miese Gefühl beim Anblick des weinenden Kindes. Er hatte die Beherrschung verloren. Nur für einen Moment, doch der hatte ausgereicht, um ein fünfjähriges Kind und seine Mutter zu ängstigen. Und das machte ihm Angst. Er wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Nach einigen quälend langen Sekunden übertönte der Klingelton seines Handys das Wimmern des verstörten Jungen.
Das Display zeigte Dennis’ Namen an. Beinahe erleichtert stand Sven auf und verließ das Wartezimmer. Erst als er im Freien stand und ein paarmal tief durchgeatmet hatte, klappte er das Telefon auf.
»Was gibt’s?«, fragte er kurz angebunden.
»Wie ich deiner freundlichen Stimme entnehmen kann«, bemerkte Dennis ironisch, »kommt mein Anruf ungelegen. Ich hoffe, du hast nicht gerade den Finger von deinem Arzt im Hintern.«
»Nein«, räusperte sich Sven, »eigentlich kommt mir dein Anruf gerade recht. Was ist bei der Befragung rausgekommen?«
»Nichts«, kam die knappe Antwort.
»Und wieso nicht?«
»Weil Krämer tot ist.«
»Was?«, stieß Sven entgeistert hervor.
»Tja, der liebe Herr Doktor hat sich letzte Nacht selbst ins Jenseits abkommandiert. Und seine Frau hat er gleich mitgenommen.«
»Verdammt«, entfuhr es Sven. »Wo bist du jetzt?«
»Wenn ich nicht wüsste, dass ich im Haus der Krämers bin, würde ich sagen, in einem Schlachthaus.«
Sven klemmte das Handy zwischen Wange und Schulter fest und durchsuchte seine Taschen hastig nach etwas, worauf er schreiben konnte. Schließlich stieß er auf den Zettel, den er Sandra in dem Restaurant gezeigt und auf dem er die Formel aus Jensens Notizbuch notiert hatte. Nach einem Stift tastete er jedoch vergeblich. »Moment.« Er hastete zurück in den Flur der Praxis, wo die dunkelhaarige Assistentin hinter einem Empfangstresen saß und von ihrem Computerbildschirm aufsah. »Darf ich?«, fragte Sven und deutete auf mehrere Kugelschreiber, die auf dem schmalen Tisch hinter dem Tresen lagen. Die Assistentin nickte und reichte ihm wortlos einen der Stifte. »Okay«, sagte Sven, »gib mir die Adresse.« Anschließend wiederholte er die Angaben und ließ sie sich bestätigen. »Rührt euch nicht vom Fleck. Ich bin in zwanzig Minuten da.« Er legte auf. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür des Sprechzimmers.
»Frau Klein, sind die Laborergebnisse von Frau Görgen schon da?«, fragte der Arzt.
Die Dunkelhaarige nickte. »Liegen nebenan auf dem Tisch. Ich hole sie Ihnen.« Dann verschwand sie im Nebenzimmer.
Der Arzt lächelte Sven freundlich zu, während er eine Schublade des Empfangstresens aufzog und einen Block Rezeptvordrucke hervorholte.
»Ich muss leider für heute absagen, Herr Doktor«, verkündete Sven. »Mir ist etwas Unerfreuliches dazwischengekommen.«
Der Arzt blickte auf. »Na, ich hoffe, es hat nichts mit Ihren Blutwerten zu tun. Da sind Sie bei mir eh an der falschen Adresse.«
Sven sah ihn fragend an.
»War nur ein Scherz«, meinte der Arzt. »Aber wie ich feststelle, wirkt der anscheinend nur unter Medizinern.«
Sven betrachtete ihn noch immer verständnislos.
»Ihr Zettel da«, erklärte der
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