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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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begriff er, dass alles, was wirklich wichtig war, vor ihm unter der schlichten weißen Bettdecke lag. Er fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie Kinder hätte bekommen können. Doch die Natur hatte ihr das verwehrt. Vielleicht hielt sie deshalb so zu ihm, weil sie die Schuld an alldem bei sich selbst suchte, obwohl er ihr nie einen Vorwurf gemacht hatte. Nein, sie traf keinerlei Schuld. Sein Ehrgeiz und sein schwaches Selbstwertgefühl hatten sie an diesen Punkt gebracht. Er hatte wieder angefangen zu trinken. Sie wusste es. Alles schien sich zu wiederholen, der Alptraum von vorn zu beginnen. Er konnte ihr das kein zweites Mal antun; konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihr Name erneut durch den Schmutz gezogen würde. Das hatte sie nicht verdient.
    Ein weiteres Stöhnen ertönte, mehr ein Seufzer.
    »Kommst du endlich ins Bett?«, fragte sie schläfrig, ohne sich umzudrehen.
    »Ja, Liebes«, erwiderte er schwermütig, und seine rechte Hand glitt langsam in die Tasche seines Bademantels. Eine Träne tropfte auf den Schaft des verchromten Revolvers. Er schluchzte leise auf, während sich sein Arm streckte. »Schlaf weiter, Schatz«, flüsterte er zitternd. »Schlaf einfach weiter.«
    Dann schloss er die Augen.
    Er spürte den Rückstoß bis in die Schulter hinauf. Der Knall hallte von den Wänden des Raumes wider und zerriss ihm fast das Trommelfell. Die Kugel drang hinter ihrem linken Ohr ein; Blut und Gehirnfetzen spritzten an die blaue Tapete und färbten das Kopfkissen dunkelrot. Daunenfedern wirbelten wie Schneeflocken durch die Luft und senkten sich sachte auf das blutige Loch in ihrem Schädel.
    Konrad Krämer sah es nicht, wollte es nicht sehen, kniff die Augen fester zusammen. Einige Sekunden verharrte er stocksteif, weinte mit geschlossenen Augen, konnte und wollte nicht begreifen, was er gerade getan hatte. In der plötzlichen Stille hörte er die innere Stimme wieder. Diese Stimme, die seit Wochen durch seinen Kopf geisterte und ihn um den Verstand brachte. Er hatte versucht sie zu verscheuchen, aber kein Rausch der Welt brachte das fertig. Sie klang wie seine eigene, aber sie konnte nicht ihm gehören, denn er hatte furchtbare Angst vor dieser Stimme. Sie sprach von Menschen, die seinetwegen leiden und sterben mussten; predigte ihm seine Pflichten als Arzt, denen er nicht nachgekommen war. Sie sprach von Verhören, von Handschellen und von Leuten, die kopfschüttelnd behaupteten, sie hätten es ja schon immer gewusst. Diese Stimme war so mächtig und gnadenlos, dass er vor ihr erzitterte. Es war an der Zeit, sie endlich zum Schweigen zu bringen.
    Schluchzend sank er auf die Knie und schob sich den Lauf des Revolvers in den Mund.
    Den zweiten Schuss hörte er nicht mehr.

15
     
     
     
     
     
     
     
    I n Gedanken versunken saß Sven im Wartezimmer seines Arztes. Die Worte des anonymen Anrufers, die ihm eine weitere schlaflose Nacht beschert hatten, ließen ihn nicht los. Warum hatte der Kerl ihn angerufen, wenn er letztendlich nicht bereit gewesen war, ihm etwas Brauchbares zu erzählen? Wollte er nur seine Neugier wecken, um ihn bei der Stange zu halten? Oder hatte er vor, ihn auf eine falsche Fährte zu locken?
    Ein Opfer .
    Ihm war klar, dass es keinen Sinn hatte, sich länger damit zu beschäftigen; das würde ihn nicht weiterbringen. Erschöpft rieb er sich die Augen und hatte danach Mühe, sie wieder zu öffnen. Ein wenig verschwommen nahm er die vier Personen wahr, die sich mit ihm in dem Zimmer befanden. Die einzige Frau darunter mochte Mitte dreißig sein und war in eine Zeitschrift vertieft, während ihr kleiner Sohn ruhelos umherlief und offensichtlich der Meinung war, alles anfassen und umherwirbeln zu müssen, was er in die Finger bekam. Der jüngere der beiden Männer tippte genervt auf den Tasten seines Handys herum, während der andere einfach nur die Wand anstarrte. Nur der Mann mit dem Handy war noch vor ihm, dann war er an der Reihe. Und er hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde, denn die Müdigkeit brach jetzt über ihn herein wie ein Erdrutsch und drohte seinen Verstand zu verschütten. Vielleicht waren es aber auch die Umstände dieses Arztbesuchs, die zu diesem geistigen Tiefpunkt führten. Er hatte Dennis gesagt, es handle sich um eine Vorsorgeuntersuchung. In Wahrheit hatte er jedoch vor, sich ein Beruhigungsmittel verschreiben zu lassen. Und Schlaftabletten.
    Der Junge malträtierte mittlerweile die Bauklötze in der kleinen Spielecke und begann,

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