Stern auf Nullkurs (1979)
leben in unseren Kindern weiter, Kalo", sagte sie, und dann, ihn aufmerksam anblickend: „Du hast doch Kinder?"
Er nickte, und seltsamerweise dachte er damals nicht so sehr an seine Tochter, sondern an Aikiko, an ihre warmen Augen und an die Locke, die ihr bei jeder heftigen Bewegung in die Stirn fiel.
„Wo sind sie jetzt?"
„Meine Tochter lebt in Lenkoran. Lenkoran ist eine wunderschöne Stadt, weißt du? Die Kinder dort..."
„Wann hast du sie zum letztenmal gesehen?"
Er mußte nachdenken. „Seit einem Jahr war ich nicht mehr bei Michika. Aikiko kümmert sich hin und wieder um sie."
„Wir leben in unseren Kindern weiter", wiederholte sie. „Du solltest Kontakt zu deiner Tochter halten."
Vielleicht hatte sie recht. Bestimmt sogar. Pela kannte das Leben, verstand es zu meistern. Und sie kannte sich auch in der Psyche der Kinder aus, obwohl sie nie eins gehabt hatte. Ihr Tod hinterläßt eine Lücke, schafft ein Vakuum, in das er nun zu stürzen droht.
Erst jetzt spürt Kalo, wieviel Halt sie ihm einzig und allein durch ihre Anwesenheit gab, ja, daß allein schon der Gedanke an sie genügte, ihn Entschlüsse fassen zu lassen. Er brauchte sich nur ihre Reaktion in einem bestimmten Sachverhalt vorzustellen, um einen Weg zu sehen. Dem tat auch das Wissen keinen Abbruch, mit ihr nicht immer einer Meinung zu sein.
Jetzt erst fällt ihm auf, daß Aikiko in all den Tagen, seit sie sich wiedersahen, Michika mit keinem Wort erwähnt hat. Aber auch, daß er sich nicht einmal nach seiner Tochter erkundigt hat.
Wen bedauert er denn eigentlich? Pela, weil sie das Leben verlor, oder sich selber, weil er Pela verlor? Dieser Gedanke raubt ihm fast die Besinnung. Es vergeht viel Zeit, ehe er sich ein wenig durch die Vorstellung beruhigt, daß er sich ja bereits von ihr getrennt hatte, bevor er nach Japan flog.
Aber war das nicht nur eine Flucht vor ihrem kritisch wachen Verstand? Hoffte er nicht in Japan Aikiko wiederzufinden, einen alten neuen Halt, einen bewährten, bekannten? Aikiko und Pela, sind das wirklich nur Stützen seines unreifen Charakters gewesen?
Verzweiflung steigt in ihm auf. Er droht hoffnungslos zu versinken in diesem Sumpf aus brodelnden Gedanken. Nur nicht weitergrübeln! suggeriert er sich. Er muß sich beruhigen, muß zu sich selber finden, die Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Entschlüsse zu beurteilen zurückerlangen, erst dann wird er seine Gefühle vor sich selber rechtfertigen können.
Es ist ein sonderbarer Schmerz, kein Schmerz, der sich im Inneren mehr und mehr ausbreitet, bis er den Betroffenen wie ein zäher Brei ausfüllt und gegen die Eindrücke der Umwelt abstumpft, nein, dieser Schmerz macht seltsam hellsichtig, er sensibilisiert, verstärkt alle äußeren Vorgänge und provoziert Gedanken, die ungewöhnlich, ja sogar schockierend sind.
Kalo sieht deutlich die Tränen Aikikos, ungehindert und glitzernd rinnen sie über die starren Wangen hinab, sie weint mit krampfhaft geöffneten Augen, tonlos.
„Was ist schon ein Mensch?" flüstert er. „Eine labile Anhäufung biologischer Substanz, einige Jahre lang in einem Gleichgewicht, das den Ablauf komplizierter Vorgänge sichert, Stoffwechsel, Wachstum, Vermehrung, Bewußtsein. So labil, daß ein Schlag, ein Stoß ausreicht, das Gleichgewicht für immer zu zerstören, die Funktionen zu beenden. Und was bleibt?"
Aikiko antwortet nicht. Verständnislos blickt sie ihn an.
Er preßt die Fäuste gegen die Schläfen, spürt, wie das Unbegreifliche, die große Leere nach ihm tastet. Was bleibt?
Läge Pela zu Hause im warmen Boden der Erde, man könnte an eine Auferstehung glauben, an Gras und Büsche, an Blüten, die ihr Körper nährt, aber hier, in der eisigen Leere des Alls, was geschieht hier mit ihr?
Ein jahrtausendelang treibender Fetzen willkürlich zusammengefügter Materie, unveränderbar, ewig?
Und wennschon, wo ist der Unterschied?
Milliarden von Menschen, Milliarden dieser labilen biologischen Systeme, denen eine besonders komplizierte innere Struktur Bewußtsein gab, tauchen auf aus der Fülle des Lebens, erheben sich wie Nebel aus fruchtbarem Boden, treiben dahin und tauchen zurück, neue Schwaden von Leben zeugend.
Was ist der einzelne? Eine Wolke, eine Welle, ein Hauch. Vergänglich zwar, aber reproduzierbar.
Das Leben zählt, nicht der Lebende, die Gesellschaft, nicht das Individuum, das Meer, nicht die Welle.
Selbstverständliche Schlußfolgerung der Vernunft, vom Gefühl nicht zu
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