Stern auf Nullkurs (1979)
Gefühle weiß er noch nichts. Sie beide werden ganz neu anfangen müssen, so, als hätten sie sich erst gestern kennengelernt. Immerhin stimmte sie sofort und vorbehaltlos zu, als er sie bat, ihn nach Lenkoran zu begleiten.
„Schlimm!" sagt sie, mehr nicht, aber er spürt, was sie ausdrücken will. Sie bedauert die Menschen, die ihr Land verloren haben, sie trauert um die blühende Ebene, um die kraftstrotzenden Bäume und die schäumenden Bäche. Sie sieht das alles zum erstenmal, aber sie klagt nicht. Auch sie weiß, daß es sein mußte.
Kalo beobachtet sie, versucht sich jeden ihrer Gesichtszüge, jede ihrer unbewußten Bewegungen einzuprägen. Sie trägt das Haar jetzt ein wenig länger als früher, so gefällt sie ihm besser. Auch der Ausdruck ihres Gesichtes ist weicher geworden; die Veränderung beschränkt sich nicht nur auf ihr Äußeres. Aber die Spur von Energie um ihren Mund ist geblieben. Das beruhigt ihn irgendwie.
Sie deutet nach draußen. „Die Spinnen."
Die Gegend vor den Fenstern des Zuges hat sich aufgehellt. Das ist gewiß nicht nur dem schnell heraufdämmernden Morgen zuzuschreiben, auch die Struktur der Landschaft ist anders als vorher, die verkohlten Rudimente der Bäume sind verschwunden, der Boden wirkt aufbereitet, wie bestellter Acker, feucht. Daran kann auch die bereits jetzt aufkommende Hitze nichts ändern. Aus der Erde steigt Dunst auf, die Berge am Horizont krümmen sich in den Schlieren der Thermik.
Und dann sieht auch er die Reihe der Aggregate. Sie marschieren nebeneinander, in kilometerlanger Formation, so dicht, daß man meinen könnte, sie berührten einander.
Er erinnert sich eines ähnlichen Bildes, vor Jahren sah er den Ausschnitt eines historischen Films, Soldaten in langer Reihe, Soldaten mit schmutzverkrusteten Uniformen und verschmierten Gesichtern, stolpernd und fallend und trotzdem vorwärts rennend, ohne eigenen Willen.
Auch diese Spinnen haben keinen eigenen Willen, auch sie gehorchen einem eingespeisten Programm und handeln gemäß aufgeprägten Modellen, aber sie straucheln nicht, sie schreiten gleichmäßig und mit gemessenen Bewegungen dahin, und hinter ihnen bleiben nicht Tod und Verderben zurück, sondern hoffnungsvolles Leben und Frucht.
Gegensatz und Kongruenz zugleich, die Spirale der Evolution, Wiederholung auf höherer Ebene.
Das dort draußen sind Zoomaten, die erste auf der Erde gezüchtete Generation, geschaffen nach Modellen, die die Imagines von Astrat zur Verfügung stellten.
Mit kräftigen Zangen brechen sie die zusammengesinterten Schollen des Bodens auf, zerspanen das morsche Holz der Baumreste und hinterlassen eine Erde, die erneut Vegetation zu tragen und Frucht hervorzubringen imstande ist.
Eine Viertelstunde später zieht vor den Fenstern eine Ebene vorbei, die bereits einen intensiv grünen Anflug zeigt. Hin und wieder wird ein rötlicher, den Boden überziehender Bewuchs sichtbar, eine neue Art von Vegetation, eine hitzeresistente Mutante schnell wachsender Gräser, die das Werk der Spinnen fortsetzen soll.
Und dann wird die Ebene ganz anders, als sie eben noch war, heimischer, irdischer; man möchte den Zug anhalten, aussteigen und mit nacktem Fuß das Gras teilen, um das neue Leben möglichst intensiv zu spüren. Und erst jetzt, angesichts dieser unscheinbaren Pflanzen, die rötlichgrün aus kargem Boden sprießen, erlangt Kalo letzte Gewißheit, richtig gehandelt zu haben.
Kalo Jordan ist auf dem Weg nach Lenkoran, auf dem Weg zu seiner Tochter. Plötzlich kommt er sich uralt vor wie jemand, der sein Lebenswerk abgeschlossen hat und sich nun anschickt, Ordnung in seine Angelegenheiten zu bringen, endgültig Ordnung.
Er wird es nicht bei einem Besuch Michikas bewenden lassen; vielleicht müßte er auch Aikiko aufsuchen. Hier irgendwo in der kaukasischen Senke hält sie sich auf. Als Biokybernetikerin hat sie entscheidenden Anteil an der Zucht der Spinnen. Es wäre gut, ihr zu sagen, daß er und Pela zusammenbleiben werden, wie sie und Nelen zusammenbleiben sollten.
Sie wird ihn empfangen, wie sie ihn damals in Akutagawa empfing, ohne Spott - und ohne das Feuer von ehedem. Aber spielt das jetzt noch eine Rolle?
Weitere Kostenlose Bücher