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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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schlug die Peitsche zu.
    Kimmich hatte die Augen geschlossen.
    »Antworten!«, schrie es vor ihm.
    »Jawohl«, sagte Kimmich.
    »Na also«, grinste der Scharführer zufrieden, »er lernt ja das Maul aufzumachen! Aber pass mal auf: Wir möchten jetzt diesen jüdischen Katzengesang hören.«
    Er nahm ein Aktenbündel vom Schreibtisch und blätterte darin. »›Judas Maccabäus‹ heißt das Hurenlied. Uns leider nicht bekannt, also«, er trat nach Kimmich, »fang an, sonst werd ich dir den Ton geben!«
    Er hob die Peitsche.
    Kimmich wusste nicht mehr, ob er sang oder nicht. Es war eher ein Gurgeln.
»O Freiheit du, du Lebenssonne,
    Sitz der Tugend, Quell der Wonne!
    Ohne dich kein Reiz des Lebens,
    Keine Freude, wert des Strebens …«
    Dann brach er unter der Wucht der Schläge und dem untragbaren Maß menschlicher Entwürdigung zusammen. Er hörte nicht mehr, wie der Scharführer mit überkippender Stimme, den Takt mit der Peitsche auf seinen nackten Körper schlagend, grölte:
»Voran, o Held! Kühn brich entzwei
    Das harte Joch der Sklaverei!«
    Die Uhr an der Wand schlug die fünfte Stunde. Kimmich taumelte aus seinen Erinnerungen. Jetzt musste er zu Jähde gehen und vielleicht hieß das abermalige Quälerei? Diesmal war Kimmich gewappnet. Im Lager hatte er die Feuerprobe tiefster moralischer Erniedrigung bestanden. Neben der Eigenwilligkeit seines Charakters hatte Kimmich sein Leben dem Genossen Dressler zu verdanken. Mit kahl geschorenem Kopf, in Sträflingskleidern, mit rotem Dreieck auf der Brust, war er der Gruppe der Politischen zugeteilt worden. Er, einer der unpolitischsten Männer, hatte sich bisher ausschließlich der Musik und dem Aufbau seines Chores gewidmet. Er war der Meinung gewesen, Politik gehöre in die Hände derer, die sich dazu berufen fühlen. Der Zufall, dass beide aus der gleichen Stadt stammten, hatte die Männer enger zusammengebracht. Als erfahrener und langjähriger Häftling führte Dressler den Neuling Kimmich in die Gruppe ein. Hier lernte Kimmich, dass nicht die Verwirklichung eines Talentes allein schon Lebenszweck bedeutet. Kimmich entdeckte mit Erstaunen, dass er trotz allem, was er für die Musik getan, letztlich nutzlos gelebt hatte. Er fühlte sich beschämt, dass zu dieser Entdeckung erst äußerste Bedrohung, ja, die Gefährdung des eigenen Lebens führen musste. Dressler und seine Gruppe hatten durchweg diese Gefährdung auf sich genommen, um die bessere Gemeinschaft des Menschen zu verwirklichen.

Nach fast drei Jahren betrat Kimmich zum ersten Mal wieder das Alumnat. Sein ehemaliges Arbeitszimmer war nur noch an dem Türschild »Rektorat« zu erkennen.
    Die mit Musikliteratur angefüllten Bücherregale an den Wänden waren verschwunden und hatten einem lebensgroßen Hitlerbild sowie der Büste des Reichsjugendführers Platz machen müssen. Neben dem Fenster hing eine Russlandkarte. Mit Stecknadeln und einem roten Wollfaden war säuberlich die Frontlinie des sieghaften Jahres 1942 abgesteckt. Auf dem Schreibtisch, an dem Kimmich beinahe fünfzehn Jahre gearbeitet hatte, stand eine Miniaturausgabe des Leibstandartenwimpels Feldherrnhalle. Nichts in diesem Zimmer erinnerte an Musik oder gar an eine schöpferische Tätigkeit. Mit schnellem Blick sah Kimmich die Noten seiner Friedensmotette. Jähde versuchte, sie mit den Armen zu verdecken, er rührte sich nicht vom Schreibtisch. Er freute sich darauf, Kimmich zu überraschen und sich an dessen Furcht zu weiden.
    »Bevor ich zum eigentlichen Thema komme«, begann Jähde, »möchte ich mich mit Ihnen über Ihre Vergangenheit unterhalten. Der Grund Ihrer Schutzhaft ist Ihnen noch geläufig?«
    »Ja, Ihre Denunziation!«
    »Ihre Frechheit, Kimmich, scheint mir weit größer als Ihr Gedächtnis zu sein. Hoffentlich gibt das nicht Schwierigkeiten, wie?«
    Er hatte Kimmich an der Tür stehen lassen.
    »Sie wurden in Schutzhaft genommen, weil Sie entgegen dem staatlichen Gesetz entartete Musik betrieben. Sie studierten mit dem städtischen Knabenchor Judenlieder ein, obwohl Sie damals von mir als Parteigenosse gewarnt wurden.«
    Kimmich ließ Jähde reden, ohne ihn zu unterbrechen.
    Schweigen war hier der beste Widerstand.
    »Wenn ich mich recht erinnere«, fuhr Jähde fort und spielte mit dem Fähnchen auf seinem Schreibtisch, »wurden Sie vor eineinhalb Jahren durch die Weihnachtsamnestie unseres Gauleiters in Ihre Heimatstadt entlassen. Waren Sie da eigentlich der Einzige?«
    Jetzt spürte Kimmich Gefahr. Was hatte das mit seinen

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