Stern ohne Himmel
werde zu Tode geprügelt oder käme zu Zwangsarbeiten nach Sibirien, so hieß es. Tag für Tag hatte man sie statt mit Brot mit diesen Parolen gefüttert. Wahrscheinlich, um den letzten Rest von Kampfgeist aus den Männern zu pressen. Wenn sie schon nicht mehr für Führer und Vaterland kämpfen wollten, dann wenigstens aus Angst.
Der Soldat zwischen den Trümmern wollte weder für Führer und Vaterland kämpfen noch aus Angst vor der Gefangenschaft. Er war Deserteur und er wollte nach Hause zu seiner Frau. Vor Tagen war er davongelaufen. Es war nicht sonderlich schwierig gewesen. Aber auf der Flucht war jeder Deutsche ein Feind. In einem Bauernhof hatte ihn eine Flüchtlingsfrau auf dem Heuschober versteckt. Kinder fanden ihn und die Leute waren ihm mit Mistgabeln bewaffnet gefolgt. Das Zetergeschrei der Bauerntochter klang ihm noch in den Ohren: »Ich schäme mich, eine Deutsche zu sein …« Von dieser Stunde an hatte der Soldat die Menschen gemieden.
Wenn ich nur einen andern Rock hätte, dachte er, dann käme kein Mensch darauf, dass ich Soldat bin. Ich könnte als Flüchtling zu den Volksküchen gehen, heißen Kaffee trinken, Brot essen und auf Stroh schlafen.
Zweimal hatte der Soldat in der Dunkelheit versucht, an Zivilkleider zu kommen. Aber beide Male waren Leute dazugekommen, bevor er seine Opfer bestehlen konnte. Das letzte Mal war es ein älterer Mann mit einem Mantel aus gutem Stoff. Das Gesicht des Mannes war gelb geworden, als der Knüppel von hinten auf seinen Kopf schlug.
Seufzend ließ er sich hintenüber auf die Steine fallen. Bei Anbruch der Dunkelheit wollte er weiter, Richtung heimwärts.
Plötzlich vernahm er Geräusche. Er wälzte sich auf den Bauch, in der einen Hand den Knüppel, in der anderen eine ungeladene Pistole. Der letzte Schuss Munition hatte einem Russen gegolten.
Ruth lief über die Trümmerpfade. Sie hatte dem Großvater versprochen, Antek nach den Noten zu fragen. Da er ihr erlaubt hatte, nach alten Sachen zu suchen, wollte sie ihn nicht enttäuschen. Die Schatten der Trümmerberge lagen schwarz vor ihr. Es war in der Dämmerung schwierig, das Gelände zu überblicken. Sie dachte an Abiram, der jede Nacht träumte, wie seine Mutter erschossen wurde. Ruth sah hinüber zum Rand der Stadtmauer, wo sie vor dem Angriff mit ihrer Mutter gewohnt hatte. Der Vater war gleich am Anfang des Krieges gefallen. An die Bombennacht konnte sie sich kaum noch erinnern. Sie wollte mit der Mutter in den Keller gehen, als es um sie knisterte und krachte. Die Wand sah plötzlich wie ein zerknittertes Tuch aus und die Mutter stürzte vor ihr die Treppe hinunter. Weiter wusste sie nichts mehr. Nachbarn hatten erzählt, dass sie viele Stunden verschüttet gewesen sei. Die Mutter hatte man nicht mehr gefunden. Aber geträumt hatte sie das alles nie. Ruth lief schneller.
Erst hatte der Soldat nur die Schritte gehört. Jetzt zeichnete sich Ruths Gestalt deutlich gegen den Abendhimmel ab.
»Eine Frau«, murmelte er, »das hat mir gerade noch gefehlt.« Er robbte, so weit er konnte, nach vorn. Jetzt lag er auf dem Steinwall und konnte den engen Pfad gut sehen. Das ist günstig, dachte er und richtete sich auf. Aber was sollte er mit Frauenkleidern oder mit einem Weibermantel anfangen? Es hatte keinen Zweck.
Plötzlich kniff er die Augen zusammen. Was die Frau dort im Arm trug, mussten Decken oder Kleidungsstücke sein.
Geräuschlos glitt er zu Boden. Die Hände suchten mechanisch nach einem Stein. Er brauchte nur zu warten, bis sie nahe genug bei ihm war. Er fing an zu schwitzen, sein Atem ging schnell. Speichel sammelte sich in seiner Mundhöhle. Wenn er nicht träfe, wenn er sie nur verletzte, wenn sie schrie, wenn ihr Leute folgten? Seine Hand ließ den Stein los. Erst langsam, dann immer schneller rollte der Brocken den Wall hinunter. Er sprang und kullerte, bis er eine ganze Lawine von Steinen mit sich riss, die den Pfad verschütteten.
Ruth stand ganz still vor Schreck. Es war nur ein Steinrutsch, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie packte Jacke und Decke noch fester und machte sich daran, die Steine, die den Pfad verschüttet hatten, zu überklettern.
Der Soldat kniete sich lautlos hin. Gleich würde ihr Kopf direkt neben ihm auftauchen, und das, was sie in den Armen hielt, war eine Decke und eine Männerjacke. Ganz deutlich konnte er es sehen. Das Schicksal musste es gut mit ihm meinen. Beinah hätte er aufgelacht. Es war wie im Kino. Nächtelang schlich er heimwärts, hungerte
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