Stern ohne Himmel
sage!«
Abiram spürte Anteks Ungeduld. Langsam erhob er sich und lehnte sich gegen die Wand. Gegenüber stand die Bank, auf der die vier Jungens Platz genommen hatten. Willi, breitbeinig, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Blick unverwandt auf das Opfer an der Wand gerichtet. Paule, ein wenig zu lässig, seitwärts sitzend. Zick drückte Spannung und Neugier zugleich aus. Er saß, den Oberkörper vorgebeugt, die Knie zusammengedrückt, dicht neben Antek. Antek wusste nicht recht, wie er mit dem Verhör beginnen sollte. Abiram stand stumm mit schief gehaltenem Kopf. In seiner Magerkeit wirkte er gegen die vier wohlgenährten Knaben geradezu armselig. Sein schwarzes Haar, das lang über die Ohren hing, schimmerte im Kerzenlicht.
»Du kannst uns ruhig ansehen und brauchst nicht dazustehen, als wenn wir dich aufhängen wollten!«, entfuhr es Antek.
Abiram bewegte sich nicht.
»Also, fangen wir an«, schlug Antek vor.
»Es wird auch Zeit«, brummte Willi. »Das Theater, das du hier abziehst, ist albern.«
Antek sah Abiram an. »Bevor wir zu einem Entschluss kommen, möchten wir einiges von dir wissen. Es liegt an dir, die Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Ich rate dir in deinem Interesse, nicht zu lügen und jedem von uns Rede und Antwort zu stehen. Denn nur dann können wir die ganze Sache vor uns verantworten.«
Abiram rührte sich noch immer nicht. Keiner der vier Jungen wusste, ob er begriff, wie viel Gerechtigkeit sie ihm, einem Judenjungen, zubilligten. Sein Schweigen reizte sie.
»Wie heißt du?«, begann Antek.
»Abiram Rother.« Der Gefragte sah die vier der Reihe nach an.
»Wo kommst du her, was sind deine Eltern und wo sind sie?«
»Geboren bin ich in Berlin. Als ich sechs Jahre alt war, wurde mein Vater in ein Konzentrationslager eingeliefert. Er war Juwelier.«
»Was ist das, ein Konzentrationslager?«, unterbrach Willi.
»Du weißt nicht, was das ist?«, fragte Abiram. Er konnte nicht glauben, dass ein Hitlerjunge nicht wusste, was ein KZ ist.
»Ich hab zu fragen, nicht du!«, herrschte Willi.
»Dann werde ich es dir sagen!« Abiram trat einen Schritt vor, so dass seine zerfetzten und viel zu großen Schuhe dicht vor Willis schwarzen Stiefeln standen. Er beugte sich zu Willi herunter, bis sie einander gegenüber waren. Willi war es nicht möglich, dem Geruch aus Abirams schmutziger Kleidung zu entgehen, sogar den Atem des Juden spürte er im Gesicht.
»An die Wand!«, rief Willi angeekelt.
»Ein Konzentrationslager«, fuhr Abiram fort, ohne sich um Willis Befehl zu kümmern, »ist ein Lager, wo du zwar hinein-, aber selten wieder herauskommst. Dafür kannst du auf verschiedene Arten sterben.«
Abiram kam noch dichter heran. Willi hielt ihn sich mit beiden Fäusten vom Leib.
»Du kannst erschlagen werden oder verhungern, du kannst zu Tode gefoltert oder erschossen werden oder vergast, abgespritzt, verbrannt, erwürgt …«
»Hör auf!« Willi schüttelte Abiram wie einen Hund und stieß ihn schließlich gegen die Wand. »Unverschämte Lügerei!«, schrie er außer sich.
Aber Antek war schon aufgesprungen und drückte Willi auf die Bank zurück.
»Wo ist dein Vater jetzt?«, fragte Antek.
Abiram lehnte an der Wand und umklammerte die Latten.
»Vergast«, flüsterte er. Seine Augen wichen den Blicken der vier Jungen nicht aus.
»Und deine Mutter?«, zwang sich Antek zur nächsten Frage.
»Die wurde in einer Turnhalle erschossen … ich stand daneben.«
Antek wandte sich ab. Er hatte keine Fragen mehr. Abirams nüchterne Art bewies ihm die Wahrheit. Beschämt empfand er sein lächerliches Unterfangen, hier richten zu wollen, und zog sich schweigend ein Stück zurück.
Da Antek nichts mehr wissen wollte, glaubte Paule, an der Reihe zu sein.
»Woher weißt du, dass dein Vater vergast wurde?«, begann er zögernd.
»Durch einen Kassiber.«
»Was ist das für ein Quatsch?«, fuhr Willi dazwischen, der sich nichts unter einem Kassiber vorstellen konnte.
»Das ist ein Brief oder ein Zettel, der aus dem Lager herausgeschmuggelt wird.«
»Und warum hat man das mit deinem Vater gemacht?«, fragte Paule, der sich nicht noch mal von Willi unterbrechen lassen wollte.
»Weil er Jude war!«
Paule schüttelte unbefriedigt den Kopf. »Das ist doch kein Grund!«
»Doch, seit zwölf Jahren!«
Fragend sah Paule nach hinten zu Antek. »Dann hättest du ja Recht mit dem, was du im Waschraum gesagt hast.«
Antek nickte.
Paule fühlte sich beklommen und spürte plötzlich nicht mehr
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