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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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Stoßen. Willi richtete sich auf. Das war kein D-Zug. Er sah enttäuscht die regelmäßig aufsteigenden schwarzen Rauchschwaden einer Güterlokomotive. Aber je näher der Zug kam, umso mehr verlangsamte er die Fahrt, um schließlich in Willis Höhe mit quietschenden Bremsen zu halten. Willi erkannte sofort, dass es ein Viehtransport war. Er kroch den Bahndamm hinauf. Vielleicht konnte er irgendwo durch einen Ritz schauen. Als er das Gleis erreichte, sah er, wie SS-Männer mit Gewehren im Anschlag vom Zug sprangen. Sie beobachteten die Türen der Güterwagen, als ob jeden Moment etwas Gefährliches herauskommen könnte. Ohne viel zu überlegen, ging Willi in Deckung und blieb von den Männern unbemerkt. Er verhielt sich ganz still. Nun hörte er deutlich Geräusche aus den Waggons. Plötzlich begriff Willi, dass dieses Rumpeln und Stöhnen in den Wagen gar nicht von Rindern, Schafen, Schweinen oder gar Pferden kommen konnte. Es klang anders, seltsam fremd.
    Die SS-Männer gingen auf die andere Seite des Zuges. Mit einem Satz war Willi am Gleis. Das Signal zeigte keine Einfahrt. Er fand genug Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Als er dicht vor einem der Waggons stand, hörte er deutlich ein Jammern. Auf einmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Verwirrt sah er zu den Luftklappen des Viehwagens auf und sah mit Schrecken zwei Augen auf sich gerichtet. Willi wollte fortspringen.
    »Lauf nicht weg, Kleiner«, tönte es dumpf aus dem Wagen. Sofort setzte das Jammern aus.
    Hinter der Tür sind Menschen, schoss es Willi durch den Kopf. Auf der anderen Seite des Zuges liefen die SS-Männer auf und ab.
    »Mach uns die Tür ein paar Zentimeter auf«, flüsterte es durch die Luftklappe. »Wir kriegen keine Luft!«
    Willi starrte hinauf.
    »Mach schnell!«
    Totenstille im Waggon. Willi ging zur Tür. Er rüttelte vorsichtig, aber sie rührte sich nicht.
    »Du musst den Riegel hochschieben!«, kam es von innen.
    Willi sah sich um. Nicht weit von ihm lag ein Stock. Mit ihm erreichte er das Eisen. Er stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Jetzt sah er auch hinter den anderen Luftklappen Augenpaare.
    Er bekam Angst. Da löste sich der Riegel und sprang zurück. Ein schrecklicher Gestank schlug Willi entgegen. Plötzlich saß ihm eine feste Hand im Genick und drehte ihn um. »Was machst du hier, Bürschlein?«, brüllte ein SS-Mann und trug ihn am Kragen vom Bahndamm herunter. Dann ging alles sehr schnell. Minuten später war der Vater da. Wortlos schnallte er sich den Gürtel ab und schlug in Gegenwart des Schrankenwärters auf Willi ein. Dann schleppte ihn der Vater nach Hause. Als die Mutter sie kommen sah, fing sie an zu weinen.
    »Wer hat dir gesagt, dass du dich an dem Waggon zu schaffen machen sollst?«, schrie der Vater hinter verschlossener Tür.
    »Da waren Menschen drin«, schluchzte Willi, »die haben gesagt, sie ersticken. Ich soll ihnen ein paar Zentimeter die Tür aufmachen.«
    »Zieh deine Uniform aus. Du bist es nicht wert, sie zu tragen. Du hast diesem Gesindel von Volksverrätern, die in Arbeitslager kommen, Mitleid gezeigt.«
    Willi zog sich aus, bis er in Unterhosen vor dem Vater stand. »Hart wie Kruppstahl muss unsere Jugend sein. Solche Waschlappen wie dich kann der Führer nicht gebrauchen. Merk dir das!«
    Der Vater hatte ihn ins Bett geschickt, während die Kameraden Pimpfe wurden.
    So verlassen und allein, wie er damals war, fühlte er sich jetzt. Vor Willi lag die Pforte des Stadttors. Er merkte, dass er immer noch vor sich hin summte. Erschrocken verstummte er, denn ohne es zu wissen, hatte er Kimmichs Motette gesungen:
Jeder hat’s gehabt, keiner hat’s geschätzt,
    Jeden hat der süße Quell gelabt …
    Oh, wie klingt der Name Friede jetzt! …
    »Hart wie Kruppstahl«, schrie es in Willi, und er schämte sich, dass ihm Kimmichs Melodie über die Lippen gekommen war. »Hart wie Kruppstahl«, das hatte sich Willi geschworen, als er später Pimpf wurde. Jetzt war es an der Zeit zu beweisen, wie hart er geworden war. Jetzt konnte der Vater stolz auf seinen Sohn sein. Heute brauchte er nicht den Gürtel abzuschnallen und ihn zu schlagen, weil er Mitleid mit Volksverrätern zeigte. Die Lehre, die ihm der Vater damals gegeben hatte, musste er nun an die Freunde weitergeben, damit sie lernten, an der eigenen Schmach hart zu werden.
    Als Willis Faust gegen die Haustür schlug, taumelte Blockleiter Feller schlaftrunken aus seinem Bett.
    »Wieder mal die Klingel kaputt.« Er fuhr wütend in seine

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