Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
Hermann gewesen war. Früher.
»Du weinst ja«, sagte die junge Frau neben ihr und streichelte ihren Rücken. »Lass alles raus, komm, wein dich aus.«
Es war, als hätte gerade diese Aufforderung alle Dämme in Titine zum Einsturz gebracht. Die Tränen rannen wie reißende Bergbäche über ihre Wangen, ihre Schultern bebten, die Lippen zitterten. Und obwohl sie es kaum glauben konnte und auch nie gedacht hätte, weinte sie jetzt um Hermann. Um ihren Bruder, der ihr einst so viel bedeutet und der sie so tief verletzt und verraten hatte.
»Ich hatte einen Bruder«, stammelte sie, als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte. »Er war der stärkste, klügste, tapferste Mann, den man sich denken konnte. Ich habe ihn bewundert. Er war alles für mich. Vater, Bruder, Freund. Es gab niemanden, den ich mehr bewundert habe, dem ich mehr vertraut habe. Mit ihm bin ich vor Jahren aus Deutschland auf die Insel gekommen.«
»Und weiter?«, wollte der junge Mann wissen, der wegen seiner Liebsten hier war.
»Wir liebten uns, wie nur ein Bruder und eine Schwester, die keine Eltern mehr hatten, einander lieben können. Wir wohnten auf seinem Ingenio, auch, als er geheiratet hatte. Seine Frau wurde zu meiner Freundin, und ich dachte, wir könnten bis an das Ende unserer Tage glücklich sein.«
»Was ist dann geschehen?«, wollte der Mann wissen, dessen Frau überraschend genesen war.
Titine zuckte mit den Schultern. Schon wieder drängten sich die Tränen in ihre Augen, schon wieder war ihre Kehle wie zugeschnürt. »Ich habe mich verliebt«, erzählte sie mit leiser Stimme. »In einen Sklaven. Wir haben ein Kind zusammen. Fast drei Jahre ist der Junge schon.«
»Und dein Mann?«
Titine schlang die Arme um sich, weil ihr mit einem Schlag so kalt war, als wäre sie von einer Eisschicht überzogen. »Mein Liebster und mein Bruder. Sie hatten Streit. Es gab einen Kampf, bei dem beide verletzt wurden, danach brannte der Ingenio ab. Ich habe meinen Bruder seit dieser Zeit nicht mehr gesehen.«
»Was hat er getan, dein Bruder?«, fragte die junge Frau.
Titine konnte nur flüstern: »Er wollte nicht, dass ich ein Kind von einem Sklaven bekomme; er wollte nicht, dass wir heiraten. Fela war ihm nicht gut genug. Er hat mich nach Havanna entführt.«
»Und wo ist dein Fela jetzt?«
Titine konnte kaum sprechen. »Ich weiß es nicht«, hauchte sie. »Vielleicht ist er tot, vielleicht lebt er noch. Ich hoffe, er ist in die Wälder gegangen, ein Cimarron geworden. Er kann nicht zurück in die Dörfer und Städte, die Polizei würde ihn gefangen nehmen, oder die Soldaten würden ihn töten, sobald sie erführen, dass er einen Weißen beinahe zum Krüppel geschlagen hat. Deshalb gehe ich zum heiligen Lazarus. Ich gehe, damit Fela nach Hause zu mir und zu unserem Sohn kommen kann.«
»Und was ist mit deinem Bruder?« Die junge Frau hatte einen Arm um Titines Schultern gelegt und zog sie dicht zu sich heran, während sie ihr die Hand streichelte.
»Ich habe gehört, er ist sehr krank. Aber ich kann ihm einfach nicht verzeihen. Mein Herz ist ganz klein und eng, wenn es um Hermann geht. Ich bin hier, damit auch wir eines Tages vielleicht wieder zueinanderkommen können. Ich wünsche mir so sehr, ihm verzeihen zu können. Doch das geht erst, wenn ich Fela wiederhabe.« Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. »Versteht ihr?«, fragte sie und wunderte sich selbst darüber, wie laut ihre Stimme klang. »Versteht ihr? Er hat mir Fela genommen. Ich kann ihm nicht vergeben, bevor ich meinen Liebsten wiederhabe. Gesund wiederhabe. Erst, wenn wir die Familie sind, die wir immer sein wollten, kann ich meinen Frieden mit Hermann machen.«
Die anderen schwiegen. Die junge Frau streichelte weiterhin Titines Hand, der junge Mann reichte ihr einen Becher mit verdünntem Rum. Niemand sagte ein Wort. Es war, als wüssten sie alle, dass billiger Trost hier keine Hilfe sein würde. Titine hatte wieder angefangen zu weinen. Behutsam bettete die junge Frau sie auf ein Lager aus Blättern und Gras und hielt ihre Hand, bis sie endlich eingeschlafen war.
Als Mafalda aufwachte, fiel ihr zuerst der widerliche Geschmack in ihrem Mund auf. Es schien, als würde sie auf alten, stinkenden Putzlappen herumkauen. Vorsichtig öffnete sie ein Auge, stöhnte und schloss es wieder. Ihr Kopf schmerzte zum Gotterbarmen. Kleine Männer schwangen hinter ihrer Stirn riesige Hämmer. Auch in ihrem Magen rumorte es. Vielleicht, dachte Mafalda, hätte ich nicht das ganze
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