Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
hatten tiefe Wunden in ihr Fleisch geschnitten. Sie kroch auf allen vieren, ihre Knie waren beide wund gescheuert, die Ellbogen hatten von den kleinen Steinen auf dem Weg blutige Risse, die bei jeder Bewegung wie Feuer brannten. Doch Titine bemerkte die Schmerzen kaum. Am Anfang waren sie da gewesen, hatten sich in ihr Denken und Fühlen gegraben, aber mittlerweile hatte sie sich an all das gewöhnt. Eine tiefe Ruhe war über sie gekommen, und sie fühlte sich mit der Welt und mit den Menschen ziemlich ausgesöhnt. Aber noch lagen etliche Meilen bis zur Kirche des heiligen Lazarus vor ihr.
Die Menschen, die sie traf, waren so freundlich, dass Titine vor Rührung oft mit den Tränen kämpfen musste. Da war die alte Frau gewesen, die ihr am Abend eine kühlende Salbe auf die wunden Stellen gestrichen hatte, oder der junge Mann, der ein ganzes Stück des Weges neben ihr gelaufen war und ihr immer wieder Wasser und Früchte angeboten hatte. Und da war der alte schwarze Mann in der weißen Kleidung eines Babalaos, eines Santeria-Priesters, der sie gesegnet hatte. Nie musste sie Hunger oder Durst leiden, immer war jemand zur Stelle, der etwas Brot, ein wenig Fleisch, Früchte oder Wasser, Guarapo oder einen stärkenden Sud für sie hatte. Ihr weißes Kleid hing in Fetzen, aber Titine fühlte sich nicht nackt und abgerissen, sondern sie wurde mit jedem neuen Tag stärker. Einige, die mit ihr aufgebrochen waren, hatten bereits aufgegeben, weil die Knie zu sehr schmerzten, die Knöchel wund lagen. Aber sie gab nicht auf. Und es machte den Eindruck, als würden die Leute, die sie unterwegs traf, das wissen. Immer wieder hörte sie, wie sie tuschelten. »Eine Weiße, die nach El Rincón pilgert. Eine Weiße, die das Zeichen der Yewa trägt.« Ehrfürchtig klangen diese Worte, und mit Ehrfurcht wurde sie behandelt. Sie war die einzige Weiße, hatte sie erfahren, die jemals so nach El Rincón gegangen war. Weiße pilgerten normalerweise in hübschen Kleidern, mit bequemen Schuhen und weißen Sonnenschirmen diesen Weg entlang. Am Abend legten sie sich in die weichen Betten der luxuriösen Pilgerpensionen, standen am Morgen ausgeruht auf und lustwandelten weiter. Sie aber kroch wie die Schwarzen auf allen vieren, ließ ihr Blut auf die Straße tropfen, die von unzähligen schwarzen Füßen festgetreten war. Sie aß, was man ihr brachte, trank, was vorhanden war. Und sie klagte nicht, weinte nicht, schrie nicht. Die Schwarzen betrachteten sie stolz. »Sie ist eine von uns«, hörte Titine eine Frau sagen, doch die Nachbarin unterbrach sie: »Nein, sie ist keine von uns. Sie steht über uns, ist ein Liebling der Götter. Schau sie nur an, sieh die hellen Augen, das Haar, das wie ein Heiligenschein aussieht. Sie trägt die Zeichen der Yewa. Am Ende ist es wirklich die, von der es in Havanna heißt, sie sei einer Orisha ähnlicher als einem Menschen.«
Am Abend bei Sonnenuntergang fanden sich am Straßenrand die schwarzen Pilger ein und verbrachten gemeinsam die Nacht. Wenn es still geworden war und nur das fahle Mondlicht die Gesichter zu blassen hellen Scheiben färbte, erzählte ein jeder seine Geschichte. Eine junge Frau hatte abgetrieben. Seither besuchte sie das tote Kind jede Nacht. Nun wollte sie zum heiligen Lazarus, damit ihr totes Kind Ruhe fand. Ein anderer robbte auf den Knien, um Gott dafür zu danken, dass seine Frau von einer tödlichen Krankheit genesen war. Und wieder ein anderer, ein junger schwarzer Mann, hatte sich auf den Leidensweg gemacht, um die Liebe einer Frau zu erringen. An diesem Abend war Titine an der Reihe.
»Was soll ich euch sagen?«, fragte sie. »Hat nicht jeder Mensch in seinem Leben genug Gründe angesammelt, um ein paar Tage lang tief demütig zu sein?«
Der junge Mann lachte. »So leicht kommst du uns nicht davon. Wir alle haben erzählt, was uns bewegt, diese Tortur auf uns zu nehmen. Nun sprich du.«
Titine schluckte. Etwas in ihr sträubte sich, über Fela zu sprechen. Sie hatte das Gefühl, dass sie in Tränen und Verzweiflung ausbrechen würde, sobald sie seinen Namen in den Mund nahm. Andererseits hatten die Mitpilger ihre Geschichten auch unter Tränen berichtet. Und die Zuhörer waren voller Verständnis gewesen. Es herrschte eine besondere Atmosphäre unter ihnen. Obwohl jeder Einzelne seinen Weg tagsüber allein zurücklegte, waren sie innerhalb kurzer Zeit zu einer Familie zusammengewachsen. Zu einer Familie, die einander nahe war. So nahe, wie es Titine früher einmal mit
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