Sterne im Sand
einen Stuhl unter die Bäume, am Nachmittag konnte er im winzigen Wohnzimer spielen. Sie hoffte, er werde von selbst hinausgehen, wenn ihm danach war, doch er wirkte immer zu erschöpft dazu.
Zunächst glaubte sie, er vermisse seine Eltern. Sie fand heraus, daß sein ›Dadda‹ Gabbi Gee oder so ähnlich hieß, doch der Junge schien beim Sprechen über ihn nicht sonderlich bekümmert zu sein. Molly begriff, daß er einen großen Teil seines früheren Lebens vergessen hatte. Daher bemühte sie sich, ihm einen Ersatz zu schaffen: Wenn sie abends zu Hause war, hielt sie ihn in ihren Armen, bis er einschlief, erzählte ihm alle seine Lieblingsmärchen. Machte sie ihre Runden als Hebamme, legte sie ihn mit ein paar Bilderbüchern in ihr Bett. Bei ihrer Rückkehr fand sie ihn immer schlafend vor, umgeben von den billigen, kleinen Büchern, im Arm den Teddybär, den sie in einer Spendenkiste gefunden hatte. Doombie liebte diesen Bären heiß und innig, und sie erfreute sich stets aufs neue an diesem friedlichen Bild, da sie sich Sorgen machte, wenn sie ihn länger allein lassen mußte.
Busters Einzug hob ihre Stimmung. Nun konnten sie sich gemeinsam um das zauberhafte Kind mit dem krausen, schwarzen Haar, der dunklen Haut und dem gewinnenden Lächeln kümmern. Seine Krankheit – sie war sicher, daß er an einer Krankheit litt – schien ihn, von der Müdigkeit einmal abgesehen, nicht weiter zu belasten. Er steckte immer voller Fragen, wollte wissen, wer die Leute in den Büchern waren und weshalb sie so alberne Dinge taten. Sein kleiner Verstand pickte unlogische Stellen sofort heraus, verkündete sie Buster stolz. Warum erkannte Rotkäppchen denn nicht den Unterschied zwischen der Großmutter und einem Wolf?
»Er ist wirklich schlau«, stimmte Buster zu. Er fühlte sich ungeheuer geschmeichelt angesichts Doombies Freude darüber, daß er ›für immer‹ zu ihnen gezogen war. Da das Haus nur zwei Schlafzimmer besaß, schlief er auf der hinteren Veranda, und Doombie rief oft nach ihm, um sich zu vergewissern, daß er auch wirklich da war. Die beiden Geschwister gehörten zu den eher zurückhaltenden Menschen und sprachen nie über ihre Gefühle, doch Buster wußte, daß seine Schwester den Jungen wie einen Sohn liebte. Für ihn bedeutete die Vaterrolle eine völlig neue und wertvolle Erfahrung. Doombie liebte ihn und zeigte es auch ganz offen. Er fühlte sich wohl in Busters Gesellschaft, saß oft auf seinem Schoß, folgte ihm überallhin. Molly zog sie schon damit auf.
»Natürlich, Männer halten doch immer zusammen. Dagegen komme ich als Frau gar nicht an. Ich darf nur für euch kochen und waschen.«
Dankbar begriff Buster allmählich, daß er, obgleich ein mittelloser Ex-Trinker und gescheiterter Boxer, um seinetwillen geliebt wurde. Doombie bewunderte seinen Freund, der sich zum willigen Sklaven des Kindes machte und ängstlich bemüht war, ihm zu gefallen.
Doch Mollys Sorgen wurden größer. Sie sprach mit einem Arzt über das Kind und konnte ihn überreden, sich Doombie anzusehen, obwohl er schwarz war. Sie wußte, daß sie die Tatsache vorher erwähnen mußte, um eine peinliche Situation zu vermeiden. Da Molly jedoch als ausgezeichnete Hebamme bekannt war, konnte er ihr diese Bitte nicht abschlagen.
Seine Diagnose bestätigte ihre Befürchtungen: Der Junge hatte die Schwindsucht. Vermutlich hatte er sich im Armenhaus damit angesteckt. Der Arzt verschrieb Medikamente, die Molly bereits von einem befreundeten Apotheker erhalten hatte, riet zu Ruhe und viel gutem Essen. Außerdem schlug er einen Klimawechsel vor, der Junge brauche frische Luft. Molly war darüber verärgert.
»Was denn für frische Luft? Wir leben weder in der Stadt noch im Kohlenrevier. Wo könnte er bessere Luft bekommen als hier? Wir sind nur ein paar Meilen vom Meer entfernt.«
Der Arzt zuckte hilflos die Achseln. Sie hatte ja recht. Er hatte früher in London praktiziert, wo man den vielen Tuberkulosekranken den Rat zu geben pflegte, in die Schweizer Alpen zu fahren. Doch hier lebten selbst die Ärmsten in einem gesunden Klima.
»Geben Sie ihm gut zu essen, viel mehr kann man nicht tun«, sagte er. »Und rufen Sie mich, wenn es ihm schlechter gehen sollte. Dann muß er möglicherweise ins Krankenhaus.«
Doch bei seinen Worten fiel ihm ein, daß die Krankenhäuser keine schwarzen Kinder aufnahmen. »Andererseits glaube ich, daß Sie ihn ebensogut hier pflegen können, Molly. Oder sogar besser. Kinder bekommen oft Angst in einem
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