Sterne im Sand
Widerspruchsgeist. Immerhin war ihre Freundin Ada Crossley nach Hause gefahren; man konnte nie wissen, wozu sie Charlotte sonst anzustiften imstande wäre. Zweifellos zürnte sie Victor noch, weil er sie nicht sofort über alles informiert hatte.
Am vergangenen Abend hatte Rupe ihr sein Herz ausgeschüttet, von seiner Qual und seinen Schuldgefühlen berichtet, als er Teddy aus den Augen verloren und ihn tot geglaubt hatte.
»Ich wußte nicht, wie ich Victor und Louisa gegenübertreten oder was ich zu ihnen sagen sollte. Außerdem war ich sicher, sie wollten nicht mit mir reden.«
»Was ist mit Cleo?« fragte seine Mutter. »Sie trägt doch auch einen Teil der Schuld, oder?«
Durch die Gegenwart seiner Mutter friedlich gestimmt, schlug er einen gemäßigten Ton an. »Wir haben nicht einmal bemerkt, daß er sich davongemacht hat. Du weißt doch, wie flink Kinder sind. Es dauerte nur eine Sekunde. Wir haben versucht, Vögel näher zu bestimmen, außerdem lief er in den Busch, nicht zum Fluß hinunter. Er muß im Kreis gegangen sein. Wie auch immer, die arme Cleo hat genug gelitten. Allein die Art und Weise, in der sie Springfield verlassen mußte, war furchtbar demütigend.«
»Was empfindest du für sie?«
Mit einem Achselzucken sagte er: »Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Aus guter Familie. Ich hatte gehofft …«
»Ich hoffe, du hast die Finger von ihr gelassen.«
»Mutter, ich sagte doch, sie kommt aus einer guten Familie. Ich war nicht darauf erpicht, daß ihr Vater plötzlich mit der Schrotflinte bei mir auftaucht. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, ich habe sie verloren. Ich bezweifle, daß sie irgendeinen von uns je wiedersehen möchte.« Er ging zum Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. »Sie war das erste wirklich intelligente Mädchen, dem ich begegnet bin.
Sie ist sehr süß und nett, hat die Welt bereist, und ich dachte, sie wolle nun seßhaft werden …«
»Guter Gott, liebst du sie etwa? Das hat mir keiner gesagt.«
»Wer denn auch? Ich glaube, da war auch Eifersucht mit im Spiel.«
»Sprichst du von Louisa?«
»Was dachtest du denn? Cleo ist reich, gebildet, hat sechs Monate in London gelebt, und Teddy vergöttert sie. Das war ein harter Brocken für Louisa. Ich vermute, sie betrachtete sie als künftige Rivalin um die Herrschaft auf Springfield.«
Charlotte reichte Rupe ihr Tablett. »Mir scheint, du bist ein wenig voreilig. Noch bin ich nicht tot, und das hier ist immer noch
mein
Heim.«
Genau das hatte Rupe hören wollen.
Am folgenden Nachmittag verkündete Charlotte der Köchin, daß sie zum Essen hinunterkommen würde. Entgegen Hannahs Hinweis, daß die Familie in letzter Zeit im Frühstückszimmer speise, ordnete sie an, im Eßzimmer zu decken.
»Und sag Rupe, er soll auch kommen«, fügte sie hinzu. »Er wird mit seiner Familie an einem Tisch essen. Dieses gegenseitige Anschweigen muß ein Ende haben.«
Rupe ging Victor wohlweislich aus dem Weg. Die Scherer konnten nun jeden Tag eintreffen, und sein Bruder war mit der Reinigung der Scherschuppen vollauf beschäftigt. Also ritt Rupe hinaus, um beim Auftrieb der Schafe zu helfen. Bei seiner Rückkehr erfuhr er von dem geplanten Familienessen. Eines der Hausmädchen berichtete außerdem von einem Zusammenstoß der beiden Mrs. Brodericks, bei dem es um die Arrangements ging, die seit Mrs. Charlottes Abreise getroffen worden waren.
»Sie haben sich vielleicht angeschrien, Mr. Rupe«, sagte das Mädchen. »Wir mußten wie die Möbelpacker alles hin- und herrücken.« Sie sah ihn mit einem frechen Augenzwinkern an. »Am besten, Sie machen einen Bogen um sie. Das ist eine reine Frauensache.«
Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln und gab ihr einen Klaps auf den Po. »Das lasse ich mir um keinen Preis entgehen.«
Doch der Sturm hatte sich bereits verzogen. Charlotte trug ein glänzend schwarzes Kleid und Diamantohrringe, die er seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen hatte, und stellte im Salon Blumenvasen auf, die allerdings nur mit Zweigen der australischen Silbereiche bestückt waren, da ihr englischer Garten völlig verwildert war. Charlotte liebte Blumen, doch es war ungeheuer schwer, hier etwas zum Blühen zu bringen. Die Silbereiche war zum Glück überaus robust.
Sie bemerkte ihren Sohn und sagte: »Ich erwarte dich zum Abendessen, Rupe.«
»Ich werde kommen«, erwiderte er innerlich lächelnd und eilte nach oben. Er duschte und rasierte sich, kämmte sein blondes Haar mit Pomade nach hinten, holte
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