Sterne im Sand
sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Nioka war sicherlich die letzte, die ihren Sohn in Gefahr bringen würde.
Als sie gegangen waren, setzte sie sich mit einer Tasse Tee auf die hintere Veranda. Was mochte schlimmer sein – einen Dieb in der Familie zu wissen oder unter den Männern?
Da sah sie Victor in Begleitung eines Scherers. Er nickte ihr zu und ging mit dem Arbeiter ins Büro. Was hatte das zu bedeuten? Hatte sich das Problem bereits gelöst? Victor wirkte nicht im geringsten sorgenvoll.
Louisa entschloß sich, Charlotte ein Tablett nach oben zu bringen. Die Ärmste mußte mit den Nerven völlig am Ende sein.
Unterwegs traf sie Victor, der ihr die Tür aufhielt.
»Was ist geschehen? Habt ihr das Geld gefunden?« fragte sie ihn.
Er zuckte die Achseln, schob sie in Charlottes Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
»Am wichtigsten ist das Bargeld. Ich habe gerade einen der Männer, denjenigen, der sich das Handgelenk gebrochen hat, als Boten zur Bank geschickt. Wir müssen die Scherer bezahlen. Ich habe dem Burschen einfach gesagt, wir hätten die Kosten unterschätzt.« Er sah die beiden Frauen grimmig an.
Charlotte ging in die Defensive. »Warum hast du das getan? Wieso hast du sie nicht zusammengerufen, von dem Diebstahl in Kenntnis gesetzt und verlangt, daß das Geld zurückgegeben wird?«
»Das war nicht nötig. Rupe hat gepackt und ist verschwunden. Er war gestern abend nicht beim Tanz. Einer der Viehhüter hat gesehen, wie er nachmittags weggeritten ist, und zwar nicht auf einem Arbeitspferd, sondern auf Piper Lad. Was würdest du daraus schließen, Mutter?« fragte er bitter.
»Gestern nachmittag?« wiederholte sie. »Rupe kann ebensogut einen Unfall gehabt haben. Vielleicht liegt er irgendwo da draußen und ist verletzt.«
»Wenn er auf der Straße einen Unfall erlitten hat, wird unser Bote unweigerlich auf ihn stoßen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir dann ja auch unser Geld zurück?«
»Sei nicht so sarkastisch!«
»Von wegen sarkastisch. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß der Mistkerl einen Vorsprung von achtzehn Stunden hat, wäre ich längst unterwegs. Aber jetzt ist es zu spät. Er ist weg und das Geld mit ihm.«
Charlotte schüttelte hartnäckig den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben. Es muß eine andere Erklärung geben. So etwas würde Rupe nicht tun.«
»Soll ich deiner Meinung nach also lieber die Polizei rufen?« fragte er leise, doch sie antwortete nicht. Victor nickte.
»Dachte ich mir.«
»Was ist das für eine andere Geschichte?« fragte Harry, doch Charlotte wollte mit ihrem Bericht warten, bis sie unter sich wären.
»Laßt uns in den Salon gehen. Kaffee können wir später immer noch trinken.« Sie legte ihre Serviette auf den Tisch, stand auf und verließ als erste das Speisezimmer.
Harry sah ihr verwirrt hinterher und folgte dann den anderen nach nebenan. Charlotte wies Victor an, die Türen zu schließen. Louisa wirkte unnatürlich still, und sein Bruder war vom ersten Moment an schlecht gelaunt gewesen, während seine Mutter kaum auf die Schilderung seiner mühevollen Suche nach den Kindern reagiert hatte. Harry hatte sich seinen Empfang eigentlich etwas anders vorgestellt.
»Erzähl es ihm, Victor.«
»Du hast nach Rupe gefragt, also kann ich es dir auch sagen.«
Er berichtete von dem Diebstahl und dem Verschwinden ihres jüngeren Bruders und lehnte sich dann im Sessel zurück.
Harry stieß einen leisen Pfiff aus. »Wann ist das passiert?«
»Vor zwei Tagen.«
Charlotte beugte sich vor. »Meinst du, es war Rupe? Es hätte jeder sein können. Die Männer sind noch hier, aber einer könnte das Geld gestohlen und versteckt haben, bis die Schur beendet ist. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Harry sah seine Mutter nachdenklich an. »Mir scheint, der Person, die das Bargeld gestohlen hat, war es völlig egal, ob sie die Aufmerksamkeit auf sich zog.«
»Was soll das heißen?«
»Genau das versuche ich dir die ganze Zeit zu sagen«, warf Victor ein. »Rupe hätte es nicht offensichtlicher machen können.«
Charlotte wandte sich wieder an Harry. »Du meinst, er ist es gewesen? Dein eigener Bruder?«
»Ja.«
»Oh, mein Gott!« Sie lief rot an und tastete im Ärmel nach einem Taschentuch. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Was habt ihr denn schon getan?«
»Nichts natürlich. Victor hat einen Boten zur Bank geschickt, um neues Bargeld zu beschaffen, das war alles.«
»Wie kann es dazu gekommen sein? Hattet ihr
Weitere Kostenlose Bücher