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Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Titel: Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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den frischen Wind, der hier in Hamburg ständig blies, darin ein und ging hinunter ans Wasser.
    Obwohl es ein Werktag war, hatte das Prachtwetter zahlreiche Spaziergänger an die Alster gelockt. Wenige Herren in der Tat, und fast alle waren bereits recht betagt, wie an Haltung und Gang unschwer zu erkennen. Die meisten Ausflügler, die den warmen Tag genossen und die malerische Aussicht zwischen den Bäumen hindurch über das Wasser, hinüber zu der am anderen Ufer ausgebreiteten Silhouette Hamburgs, waren Damen. Großmütter und Tanten, Mütter und Kinderfrauen mit ihren Schützlingen: kleine Jungen in blau-weißen Matrosenanzügen, die einen Ball vor sich hertraten oder einen Reifen mit einem Stöckchen neben sich hertrieben; kleine Mädchen in rüschenumwölkten weißen Kleidchen mit riesigen Schleifen im Haar, die in ihren Lackschühchen artig an Frauenhänden einhertrippelten.
    Es versetzte Emily einen schmerzhaften Stich, und doch breitete sich kribbelnde Freude in ihrem Inneren aus. Unwillkürlich strich ihre Hand über die Stelle, an der der versteifte Stoff des Mieders in Rockfalten aufsprang. Ein neues Leben wuchs in ihr heran; in Marseille gezeugt, sofern sie richtig gerechnet hatte. Heinrich wusste noch nichts davon. Sie wollte erst ganz sicher sein, bevor sie es ihm sagte. Vor allem wollte sie mit sich selbst im Reinen sein. Ihre Vorfreude war getrübt von der Angst, noch einmal ein Kind zu verlieren. Von der Angst, ihr zweites Kind würde immer ein Ersatz für den toten Bruder bleiben. Von der Angst, ein neues Kind würde jeden Tag, jede Stunde an dem alten, immerwährenden Schmerz rühren.
    »Bitte, lieber Gott«, schickte sie murmelnd ein Gebet zum Himmel, »lass es ein Mädchen werden. Eine Tochter macht es mir vielleicht leichter, damit zu leben.«
    In ihre Gedanken versunken, ihre widerstreitenden Empfindungen ordnend, ging sie den Uferweg entlang, ohne dessen gewahr zu sein. Erst ein Grußwort schreckte sie auf, ein ihr unbekannter Herr, der mit der Fingerspitze den Rand seines Zylinders lüftete und ihr dabei zunickte. Emily wurde glutrot, stammelte etwas Unverständliches und sah sich hastig um. Niemand sonst schien Notiz von ihr zu nehmen, nicht einmal davon, dass sie nur ein einfaches Wolltuch umhatte, dass ihr Rocksaum erdverkrustet und dass sie ohne Hut und ohne Handschuhe unterwegs war.
    Ein unsicheres Lächeln flatterte um ihre Mundwinkel und wurde zu einem seligen Strahlen. In immer größeren, schnelleren Schritten setzte Emily ihren Weg fort, die Alster hinauf. Ihr ganzer Leib jubilierte in der Bewegung, und sie sog tief die Luft ein, die sich zwar kühl anfühlte, aber nach Freiheit roch und schmeckte.
    Bis eine Kirchturmuhr die dritte Stunde des Nachmittagsin die Hamburger Luft zählte und Emily buchstäblich nach Hause flog, um rechtzeitig zu Heinrichs Ankunft wieder da zu sein.

    Am nächsten Tag ging sie etwas früher los, am übernächsten noch früher, bis sie irgendwann dazu überging, gleichzeitig mit Heinrich das Haus zu verlassen. Wobei er ihr manchmal nachlief, einen Schal, Handschuhe oder einen Hut in den Händen, die Emily in ihrer Ungeduld vergessen hatte und deren Sinn sich ihr nicht erschloss, angesichts der vielen Kleidungsstücke, die sie ohnehin schon am Leib trug – bis sie im Hamburger Wind wieder erbärmlich fror. Und während Heinrich in seinem Kontor Waren orderte und wieder verkaufte, neue Kunden gewann und die bestehenden zufriedenstellte, erwanderte sich Emily seine Heimatstadt und deren Umgebung.
    In flottem Schritt marschierte sie das Ufer der Außenalster entlang, an dem sich Pappeln wie strammstehende Zinnsoldaten aufreihten, durch Grünflächen und Baumgruppen hindurch am Ferdinandstor vorbei und über die Lombardsbrücke, die Außen- und Binnenalster voneinander trennte und die einen großartigen Blick auf Hamburg bot. Sie ließ die Windmühle am Ende der Brücke hinter sich und spazierte wie andere Flaneure durch die Allee der Esplanade mit ihren gleichförmigen, edel wirkenden Häuserzeilen dahinter. Am Theater vorbei und über den Gänsemarkt, wo stets ein verführerischer Duft nach frischem Brot in der Luft lag und auf dem vor Weihnachten der »Dom« stattfand, ein Volksfest mit allerlei Buden und Vorführungen. Zurück ging es den neuen Jungfernstieg hinauf, oder sie wählte den Weg über den alten Jungfernstieg, in dessen Alsterpavillon sie und Heinrich sonntags manchmal Tee tranken und Kuchen aßen. Kaffee stand zwar auch auf der Karte, doch

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