Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
bewegt, vermochte sie auch nur einen Fingerbreit in Bewegung zu versetzen. Selbst die Ratten schienen zu träge für emsiges Getrippel durch die Gassen der Stadt.
Mit der heißen Jahreszeit war der Gestank gekommen. Der Gluthauch der Sonne verdampfte Abwässer zu brechreizerregenden Dunstwolken, die sich auch mit den stärksten Duftessenzen nicht übertünchen ließen. Selbst das Wasser der Zisternen schmeckte brackig und metallisch, und das Meer roch fischig und verwest. Aus dem Unrat, der überall herumlag, stiegen faulige Gase auf, die in jeden Winkel wabertenund zusammen mit dem Aroma der Gewürznelken Kehle und Lunge wie mit einem Pelz überzogen.
Und mit Hitze und Gestank kam die Cholera über Sansibar. Wer heute noch munter war, konnte sich morgen schon unter Leibeskrämpfen winden und krümmen, gurgelnd den Mageninhalt ausspeien, bis nur noch Galle kam und Wasser. Der Stuhl konnte nicht mehr gehalten werden und schoss flockig wie Reiswasser heraus. Viele starben schnell, innerhalb weniger Stunden. Andere jedoch lagen tagelang lallend und verwirrt in den Häusern, Höfen und Gassen, starr oder unter Zuckungen, ausgemergelt und mit eingefallenen Zügen, bis auch sie von ihren Leiden erlöst waren und sich Schwärme von schwarzen Fliegen und anderem Ungeziefer über sie hermachten. Überall wurden Gebete inbrünstig zum Himmel emporgerufen: Allah möge sich ihrer erbarmen und den Fluch der Seuche von ihnen nehmen, wie er es schon mehrmals getan hatte. Gebete und Sätze aus der Heiligen Schrift wurden auf Papierfetzen geschrieben und an den Türen der Häuser befestigt, um die Cholera abzuwehren. Die Sprüchlein der zauberkundigen Frauen, ihre Gesänge zur Abwehr des Bösen wehten gespenstisch durch die Gassen der Stadt.
Doch nichts davon half. Leichengeruch mischte sich unter den Gestank, denn die Zahl der Toten ging in die Hunderte, dann in die Tausende. Und selbst hinter den Palastmauern waren bald erste Opfer zu beklagen.
Salima fuhr auf, horchte in die Dunkelheit und öffnete die schlafverklebten Augen. Sie zuckte zusammen, als sie spürte, wie sich zu ihren Füßen etwas regte. Jemand lag dort, hörbar bemüht, keinen Laut von sich zu geben, und doch hörte sie das unterdrückte Stöhnen.
» Umma , bist du das?«, flüsterte Salima.
»Sal…imm…«, kam es vom Fußende, und hastig krochSalima an das Ende der Matte, die ihr eine Sklavin auf den Boden gebreitet hatte, weil es dort kühler war.
»Umma!« , rief sie und rüttelte ihre Mutter sanft an der Schulter. »Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Sali…ma… Kind«, brachte Djilfidan mühsam hervor.
»Hilfe!«, schrie Salima in das stille Haus, riss es aus leichtem Schlaf. »Helft meiner Mutter! So helft doch!«
Zwei Tage dauerte es, dann starb Djilfidan. Zwei Tage, in denen Salima um sich schlug und trat, wenn jemand sie vom Krankenlager wegzerren wollte, damit sie sich nicht auch noch ansteckte. Grausam war es, mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter sich wieder und wieder übergab und wie sie von Sklavinnen gewaschen und gewickelt wurde wie ein hilfloses Kind, weil sie nichts bei sich behielt, weil sie alles sofort erbrach und ausschied. Salima ekelte sich vor dem, was sie sah, was sie roch und hörte; vor dieser völlig fremden Frau, vor dem sterbenden, namenlosen Leib.
Und gleich darauf schämte sie sich, dass sie so empfand, und ekelte sich vor sich selbst. Sie betete ohne Unterlass, bot Allah alles an, sogar ihr eigenes Leben, wenn er im Gegenzug nur ihre Mutter verschonte. Bei jedem Aufbäumen, bei jedem Blinzeln Djilfidans krallte sie sich daran fest, dass es noch Hoffnung gab. Dass es noch Hoffnung geben musste.
Bitte, Allah, lass meine Mutter am Leben!
Salima wurde Zeuge, wie ihre Mutter in kurzer Zeit zu einer Greisin alterte: ein Skelett in vertrockneter Leibeshülle, die Nase spitz, die Wangen hohl, die Augen tief in den Höhlen und ein schwarzes eingefallenes Loch der Mund. Hände wie Klauen, und kalt, so kalt, die Salima in ihren jungen warmen Händen hielt. Stunde um Stunde.
Bis es vorbei war.
Salima presste sich an den toten Körper, der raschauskühlte, klammerte sich daran wie ein Schiffbrüchiger an ein Stück Treibholz. Als könnte sie die Zeit zurückdrehen und in den Mutterleib zurückkriechen, als sei es möglich, dem Leib, der sie geboren hatte, ihr eigenes Leben einzuhauchen. Ihre Tränen galten nicht nur der toten Mutter, nicht nur ihrem eigenen ungeheuren Schmerz – es waren auch heiße Zornestränen,
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