Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
heutzutage wird niemand mehr getötet. Es ist für die Maori ein Brauch wie bei uns das Händeschütteln oder der Handkuss zur Begrüßung.«
Faszinierend, ging es Ricarda durch den Kopf.
»Man kann die Maori und ihre Kultur nur verstehen, wenn man ihre Bräuche erlebt«, fuhr Jack fort. »Ich bin sicher, dass Sie von einem Besuch profitieren werden.«
Ricarda lächelte ihn an. »Sie haben mich überzeugt. Ich werde mitkommen.«
»Dann werden wir heute gegen drei Uhr aufbrechen. Zu Fuß braucht man eine Weile ins Dorf.«
»Ich werde bereit sein«, entgegnete Ricarda. »Ich wäre allerdings sehr dankbar, wenn Sie mir erklären könnten, was ich dort zu tun habe, Jack.«
»Keine Sorge, das mach ich gern.«
Bevor Jack noch etwas hinzufügen konnte, klopfte es. Als Ricarda sich umwandte, erblickte sie Maggie Simmons in der Tür.
»Entschuldigen Sie, Doktor Bensdorf, ich habe gehört, dass Sie Ihre Praxis jetzt hier haben.«
Offenbar hatte Marys Reklame für diesen Ort bereits gefruchtet.
»Ja, Mrs Simmons, kommen Sie rein. Ich kümmere mich sofort um Sie.«
Jack Manzoni zog sich diskret zurück.
Beflügelt von der leichten Besserung, die sie bei Maggie Simmons festgestellt hatte, und der fortschreitenden Heilung Hoopers, erlaubte sich Ricarda, ihrer Vorfreude auf das Maorifest nachzugeben.
Eine seltsame Aufregung befiel sie - beinahe wie damals in Berlin, als sie auf einem Debütantinnenball ihren ersten Walzer getanzt hatte. Beim powhiri erwartete zwar niemand einen vollendeten Auftritt in einer Robe mit Reifrock und eng geschnürtem Mieder, dennoch gab es gewiss einiges, was sie beachten musste, um sich nicht zu blamieren.
Zur geplanten Zeit führte Jack Ricarda auf den Weg zum Dorf. Obwohl sie inzwischen etwas von der Flora und Fauna der Nordinsel gesehen hatte, fand Ricarda den Pfad, den sie beschritten, beinahe mystisch. Es wisperte, knackte und säuselte ringsum, als hielten sich im wuchernden Grün Elfen versteckt, die sich in ihrer Sprache etwas zuraunten. Jack zeigte Ricarda scheue Vögel, Kiwis, die sich unter Farnbüschen duckten. Über ihnen stimmten Keas lautes Geschrei an und flatterten auf.
»Zu Nachtzeiten ist es hier noch aufregender«, erklärte Jack, während er ein paar Lianen beiseitestrich, die von einem Baum herabhingen. »Dann kann man seltene Fledermäuse beobachten und noch manch andere Tiere, die einem Europäer wahrscheinlich einen Riesenschrecken einjagen würden.«
Ricarda genoss es, mit Jack durch diese üppige Natur zu wandern und seinen Erklärungen zu lauschen. Nach einer Stunde erreichten sie das Dorf. Das mit Schnitzereien verzierte Versammlungshaus brachte Ricarda zum Staunen.
»Die Maori sind wahre Künstler.«
»Das sind sie. Die Schnitzkunst ist bei ihnen heilig. Sehen Sie die Figuren dort?«
Jack deutete auf riesige Holzgebilde, die Gesichter darstellten, die dem Betrachter die Zunge rausstreckten. Die Figuren erinnerten Ricarda an Tikis, die sie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gesehen hatte.
»Was haben sie zu bedeuten?«
»Sie sollen böse Geister abschrecken. Und Feinde natürlich. Gewissermaßen sind sie schon ein kleiner Vorgeschmack auf das powhiri. Dabei werden Ihnen die Männer auch die Zunge zeigen, also erschrecken Sie nicht.«
»Was muss ich denn tun?«, fragte sie, während das Gefühl sie beschlich, dass sie beobachtet wurden.
»Wenn Ihnen der Krieger einen Zweig vor die Füße wirft, werden Sie ihn aufheben und ihm in die Augen sehen«, erklärte Jack. »Nachdem Sie diese Prüfung bestanden haben, werden Sie gefragt, woher Sie kommen. Nennen Sie ein Meer, das an Ihr Land grenzt, und einen Berg Ihrer Heimat. Da Sie eine pakeha sind, wird man von Ihnen nicht erwarten, dass Sie die Gesänge beherrschen. Geben Sie sich interessiert, und schweigen Sie taktvoll. Den Versuch mitzusingen würde man nur als Beleidigung betrachten. Wenn die Zeremonie vorüber ist, beginnen die Feierlichkeiten.«
Ricarda war beeindruckt. Welchen Berg und welches Meer meines Heimatlandes soll ich nennen?, fragte sie sich. In Berlin gibt es kein Gebirge. Die Alpen vielleicht? Und was ist mit dem Meer? Treffender, als die Ost- oder Nordsee zu nennen, wäre es vielleicht, die Spree und die Havel zu erwähnen, aber das waren Flüsse.
Nachdem sie eine Weile an der Dorfgrenze gewartet hatten, erschien Moana. Offenbar hatte sie mit Ricardas Besuch gerechnet.
»Haere mai«, grüßte sie und beugte sich vor.
Ricarda blickte unsicher zu Jack, der ihr bedeutete, es ihr
Weitere Kostenlose Bücher