Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
sie weiterging, ertönte hinter ihr ein schriller Pfiff. Zunächst glaubte Ricarda, dass jemand anderes gemeint war, doch dann rief eine Männerstimme: »He, Süße, suchst du einen Mann?«
Ricarda wirbelte herum und sah zwei junge Männer, die in Arbeiterkleidung auf einer Veranda saßen. Neben sich hatten sie eine Blechbüchse stehen, die vermutlich eine Mahlzeit enthielt.
Wenn es nach ihrer Erziehung gegangen wäre, hätte Ricarda sich schockiert zeigen müssen oder darauf hinweisen sollen, dass es sich nicht gehöre, so mit einer Dame zu sprechen. Doch wie die beiden da saßen und auf ihre Gunst hofften, fand sie derart komisch, dass sie unwillkürlich lachte und einfach weiterging.
Die Gebäude lagen hier ziemlich weit auseinander, es gab keine Enge wie in Berlin. Zwischen ihnen wucherte das Grün, und in den Baumkronen flatterten bunte Vögel, deren Gezwitscher Ricarda fremd erschien.
Hinter einem weiß gestrichenen Zaun, an dem ein Schild mit der Aufschrift Molly's Pension im Wind schaukelte, erhob sich ein zweistöckiges Gebäude mit Veranda, das Ricarda an die englischen Cottages erinnerte, die sie in Zeitschriften bewundert hatte. An den Fenstern hingen Blumenkästen, aus denen sich eine verschwenderische Fülle exotischer Blüten ergoss.
Ricarda gefiel das Haus; sie stieß die Gartenpforte auf und folgte dem Steinweg zum Eingang. Kaum war das Läuten verklungen, öffnete eine hochgewachsene, kräftige Frau die Tür. Ihr Teint ähnelte dem einer Süditalienerin. Das Rot ihrer Haare wirkte jedoch irisch. Ein paar Silbersträhnen in den Locken verrieten ihr Alter.
»Was kann ich für Sie tun, Miss?«, fragte sie, nachdem sie ihre Besucherin ebenfalls von oben bis unten betrachtet hatte.
»Sind Sie Molly?«, fragte Ricarda und vernahm im Hintergrund ein Bellen. Offenbar hatte die Hauswirtin einen Hund. Ein Geruch von unbekannten Kräutern und frischem Brot strömte ihr entgegen. »Ja, die bin ich. Molly Flannigan. Und Sie scheinen gerade erst angekommen zu sein.« Molly blickte auf den Mantel über ihrem Koffer. »Aus Europa, nicht wahr?«
Ricarda nickte. »Ja, aus Deutschland. Ich bin Ricarda Bensdorf. In der Stadt hatte man mir Ihre Pension empfohlen.«
Erneut musterte die Frau sie eine Weile, bevor sie sagte: »Na gut, dann kommen Sie mal rein in die gute Stube!«
Die »Stube« war ein ziemlich großer Raum mit Kamin, Sitzecke und einer Anrichte unter einem der Fenster, die zum Hof hinausgingen. Neben der Treppe nach oben stand ein Holzpult mit einer ledergebundenen Kladde, die wahrscheinlich als Gästebuch diente. Ein Schlüsselbrett an der Wand machte die Rezeption komplett.
»Sind Sie auf der Durchreise, oder planen Sie, länger zu bleiben?«
Eigentlich will ich für immer hierbleiben, dachte Ricarda, antwortete jedoch: »Ich habe eine längere Zeit im Sinn.«
»Sie sehen gar nicht wie eine typische Auswanderin aus. Die meisten von ihnen kommen hier völlig zerlumpt an, und viele landen eher in Wellington. Manche nehmen sich ein Zimmer im Star oder Tauranga.«
»Davon hat mir die Dame, die Sie empfohlen hat, abgeraten.«
»Scheint einen guten Geschmack zu haben, die Lady. Sie wissen nicht zufällig, wie sie hieß?«
Ricarda schüttelte den Kopf.
»Na ja, ist auch nicht so wichtig. Sie können jedenfalls sicher sein, dass hier nur Leute mit guten Manieren wohnen, andere dulde ich nicht unter meinem Dach.«
Ricarda konnte sich kein Urteil darüber erlauben, wie es im Hotel Tauranga aussah, aber sie war mit dem, was sie von dieser Pension sah, zufrieden.
»Die Zimmermiete kostet drei Pfund pro Tag. Frühstück und Abendessen kriegen Sie bei mir. Die Wäsche müssen Sie allerdings selbst erledigen, meine Mieter teilen sich die Waschküche. Sie ist in dem kleinen Pavillon auf dem Hof. Sonderwünsche beim Essen gewähre ich nur bei Krankheit, ansonsten gibt es für alle nur ein Gericht.«
Molly erlaubte Ricarda, sich umzuschauen, bevor sie fragte: »Und, haben Sie sich entschieden?«
Ricarda ließ den Blick über die Möbel, den Kamin und die Stickbilder an der Wand schweifen. Der Teppich war an einigen Stellen abgetreten, wenn man genau hinsah, konnte man einen Pfad in dem gemusterten Flor erkennen, der wohl von den gewohnten Wegen der Gäste herrührte.
»Ja, ich würde gern bleiben.«
»Gut, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer. Wenn es Ihnen gefällt, können Sie sich gleich häuslich einrichten.«
Molly nahm einen Schlüssel vom Haken und führte Ricarda in den zweiten Stock. »Komfort
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