Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
das Messer neben die Schüssel.
»Ich glaube, jetzt kommt Ihr ganz gut allein zurecht, meine Liebe.« Yr trat einen Schritt zurück.
Lange blickte Faraday auf den Tropfen, der aus ihrem Daumen quoll. Dann fiel Faraday ein, was Ramu einmal gesagt hatte: Die Mutter verlange, daß man ihr nackt wie am Tag der Geburt gegenübertrete. Also befreite sie sich rasch von dem Nachthemd, achtete dabei darauf, daß das Leinen nicht mit dem Blut in Berührung kam, und trat dann das Nachtgewand achtlos zur Seite. Vorsichtig hielt sie nun die Hand über die Schüssel.
»Möge dieses Blut dazu dienen, meinen Bund mit der Mutter zu erneuern«, sprach die Edle. »Möge es mich auch an meinen Schwur erinnern, der Mutter treu zu dienen. Und möge das Blut bewirken, mich der Mutter näherzubringen.«
Faraday drehte die Hand um, und der Tropfen löste sich langsam vom Daumen. »Mutter, mit diesem meinem Blut möget Ihr heute nacht über mich wachen.« Das Rot fiel in das Wasser, und sofort erstrahlte die Schüssel in smaragdgrünem Licht. Das Mädchen holte ergriffen Luft. Stärke und Kraft durchströmten sie, und sie schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken, um die Berührung mit der Gottheit genießen zu können.
»Mutter«, flüsterte Faraday und schloß alle Gedanken aus ihrem Bewußtsein aus, um sich ganz der übermächtigen Kraft hingeben zu können, die durch ihren Körper und ihren Geist floß. Ihr inneres Wesen verband sich mit dieser Kraft, und diese führte sie in Sphären, die jenseits allen leiblichen Empfindens lagen. Die Edle fühlte sich viel lebendiger als je zuvor, so als stelle ihr vertrautes Lebensgefühl nur einen blassen Abklatsch der Wirklichkeit jenseits des wahrhaften Seins dar. Freude und Begeisterung breiteten sich in ihr aus, und sie erkannte, daß es ihr am Sternentor ganz genau so ergangen war. Mutter und Tor mußten eine Einheit bilden. Faraday bereitete sich darauf vor, hindurchzutreten.
Doch da klopfte es an der Tür. »Faraday?« rief Timozel.
Yr sprang auf und kippte das Wasser aus der Schale.
Augenblicklich erlosch das smaragdgrüne Glühen. Die Edle öffnete erschrocken die Augen und empfand den Verlust des Kraftflusses wie einen körperlichen Schmerz.
»Was ist denn?«
»Still!« zischte die Katzenfrau. »Euer Ritter ist an der Tür.«
Faraday saß benommen da und blinzelte nur, als Yr die Tür einen Spalt weit öffnete. »Wer ist da?« fragte die Wächterin ungehalten, weil sie sich über Timozels Störung ärgerte.
Der Jüngling spähte in die Kammer. »Ich wollte mich nur davon überzeugen, ob bei Euch alles in Ordnung ist, Faraday.«
Sie nickte knapp. »Ja, danke, Timozel.« Er hatte sie daran gehindert, durch das Tor zu treten.
»Dann ist ja gut«, murrte der Jüngling, weil er nicht mit einem solch unfreundlichen Empfang gerechnet hatte. »Schlaft wohl.«
Yr schloß die Tür schon wieder. »Verdammter Dummkopf!« schimpfte sie und wandte sich wieder an die Edle. »Heute habt Ihr eine wichtige Lektion gelernt, meine Liebe. Wenn Ihr wieder in Verbindung mit der Mutter treten wollt, stellt vorher lieber sicher, daß Euch niemand stören kann. Nicht auszudenken, wenn Timozel das hier gesehen hätte … oder Gautier. Dann wüßte auch Bornheld bald Bescheid.«
Faraday nickte betreten, obwohl sie sich immer noch darüber freute, daß es ihr gelungen war, wieder für eine kurze Zeitspanne ins Reich der Mutter einzutreten. Schon jetzt fühlte sie sich wie neugeboren. Welch wunderbares Geschenk sie doch mit der Schale erhalten hatte. In ihrem Herzen entschuldigte sie sich bei der Mutter, die Begegnung so jäh unterbrochen zu haben. »Yr, was werde ich durch die Versinnbildlichung dieses Gefäßes erfahren?« Die Katzenfrau lächelte und strich über das Geschenk.
»Ich weiß es nicht, liebste Herrin. Mit dieser Schale habt Ihr eine ungewöhnliche Gabe erhalten. Sie hat den Heiligen Hain der Gehörnten noch nie verlassen. Die Schale besteht aus heiligem Holz, und ich kann mir nicht einmal in meiner kühnsten Phantasie ausmalen, welche Zaubersprüche in sie verwoben wurden. Jetzt solltet Ihr Euch aber schlafen legen. Die Näherinnen kommen morgen früh, und dann findet Ihr erst einmal überhaupt keine Ruhe mehr.«
Faraday erwiderte das Lächeln der Wächterin und küßte sie auf die Wange. »Gute Nacht, Yr. Ich hoffe, Ihr schlaft heute nacht gut in Eurem Bett.«
Als die Katzenfrau die Tür zu ihrer Kammer öffnete, traf sie
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