Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
ich.«
Der Jüngling runzelte die Stirn und zog sich wieder auf seinen Posten zurück.
Yr wandte sich wieder dem Mädchen zu und legte ihr den Kopf sanft in den Nacken, so daß sie ihre Augen sehen konnte. Die blickten so leer drein, als habe sich ihre Seele auf Reisen begeben.
Faraday kämpfte sich durch einen See aus pulsierendem smaragdfarbenem Licht. Ein starkes Gefühl der Not zog sie mit solcher Macht an, daß sie sich nicht dagegen wehren konnte. Das grüne Leuchten hatte ihr noch nie Angst bereitet, aber jetzt erwies es sich als so stark und zornig, daß die Edle davor zurückschreckte. Bis sie erkannte, daß das Licht nicht auf sie böse war. Faraday geriet ins Nachdenken. Was mochte geschehen sein? Das Leuchten zürnte irgendwem oder irgendwas, wußte aber nicht, wohin oder worauf es seine Wut richten sollte.
Plötzlich sprach eine Stimme zu ihr. Eine leise und angenehme Stimme voller magisch gefärbter Kadenzen: »Faraday?«
»Ja?« flüsterte sie und drehte sich langsam um sich selbst, um festzustellen, wer da redete.
Jetzt meldete sich eine zweite Stimme, und sie erkannte sie als die Ramus.
»Faraday, wir brauchen Eure Hilfe.«
»Ramu!« rief sie erfreut.
»Hört bitte dem zu, was Sternenströmer Euch zu sagen hat.«
»Faraday«, sprach die erste Stimme wieder und klang jetzt sehr nahe. Und richtig, ein geflügeltes Wesen tauchte vor ihr auf.
Seine helle Haut glänzte in dem grünen Licht fast silbern. Der Vogelmensch lächelte und reichte ihr seine Hand. Seine blauen Augen baten sie, ihm zu vertrauen. Faraday konnte nicht widerstehen und ergriff seine Hand.
»Baumfreundin, werdet Ihr Euren ikarischen und awarischen Nachbarn in der Stunde ihrer größten Not beistehen? Wollt Ihr zu den Bäumen singen und sie bitten zu leben?«
»Gern«, antwortete sie. Faraday hätte alles für dieses Wesen getan, selbst wenn es sie gebeten hätte, sich vor die Skrälinge zu legen, um sich die Kehle zerreißen zu lassen.
Sternenströmers Flügel schlugen leicht, und er flog mit ihr einen langen, spiralförmigen Tunnel hinunter, in dem es grün und silbern um sie herum wirbelte. Tiefer und tiefer drangen sie in ihn ein, bis sie über einer großen Lichtung schwebten. Ein gewaltiger Baum erhob sich in ihrer Mitte und war von einem brennenden Steinkreis umgeben. Jenseits des Runds fand offenbar eine furchtbare Schlacht statt, von der die Edle aber nichts Rechtes erkennen konnte. Alles außer dem Baum und dem Kreis verschwamm vor ihren Augen.
»Faraday«, wandte sich der Zauberer an sie, »vor Euch seht Ihr den Erdbaum. Ein sehr mächtiges und lebensstarkes Heiligtum. Alles Leben in Awarinheim steht mit ihm in Verbindung. Wenn der Erdbaum stirbt oder in seinem Schlummer befangen bleibt, wird der Wald sterben. Singt bitte für ihn, Baumfreundin. Erweckt ihn aus dem Schlaf des Vergessens. Bittet ihn, alle zu beschützen, die ihn lieben und von ihm abhängig sind. Denn Gorgrael will ins Herz Awarinheims vorstoßen und bedroht den Erdbaum. Versucht bitte, ihn zu retten.«
»Das will ich tun«, erklärte Faraday bereitwillig. Wie hätte sie diesem Mann etwas abschlagen können?
Die beiden landeten vor dem gewaltigen Stamm. Dort stand Sternenströmer zusammen mit Ramu und einer Frau, die den Ikarier stützte. Die beiden Männer hielten sich an der Hand und hatten die freie Hand an den Stamm gelegt. Sie leiteten ihre Kräfte so stark auf den Erdbaum, daß sie gar nicht auf das Mädchen achteten. Nur die Menschenfrau blickte erstaunt auf. Faraday lächelte ihr zuversichtlich zu und schloß sie sogleich in ihr Herz.
»Kommt mit mir«, forderte die Seele des Sternenströmers sie auf. »Kommt mit mir, und berührt den Baum.«
Faraday legte eine Hand an die Rinde, und der Zauberer schob seine darüber. »Singt. Wenn Ihr ihn mit Eurem Lied nicht erwecken könnt, werden wir alle zugrundegehen.«
Das Mädchen gehorchte. Sie wußte nicht, woher ihr die Melodie und der Text ins Gedächtnis kamen, hatte aber das Gefühl, die Macht sei dafür verantwortlich, welche sie von der Mutter erhalten hatte. Der Sternenströmer stellte sich neben sie und begleitete sie. Sein Gesang wob sich um ihr Lied herum, und gemeinsam schufen sie wundersame Muster, die die Luft erfüllten und tief in den Erdbaum eindrangen.
Das Heiligtum hatte Jahrtausende gewartet, doch niemals hatte ihm jemand dieses Lied vorgesungen. Dies war seine Weise, die er in seiner Jugend selbst komponiert und dann der Mutter zur Aufbewahrung gegeben hatte. Der
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