Sternendieb - Roman
zu haben.
Doch was ihr das Schiff soeben eröffnete, war so alarmierend, dass sie es nicht für sich behalten konnte. Die Ausfallwahrscheinlichkeit für die Achsenstabilisierung war auf 89 Prozent gestiegen.
»Xtaska?«, sagte sie über die Nahfrequenz. Ob der Cherub sie hören konnte?
Der kahle schwarze Schädel wandte ihr das Gesicht zu.
Tabea zog ein paar Längen Nabelschnur nach und düste sich sanft durch die trübe Leere zu Xtaska.
Der Cherub lag horizontal zu ihr auf dem Rücken, beinlos und nackt unter der dünnen Plastikhülle. Die schwarzen Händchen wedelten. Er hätte keinen hilfloseren Anblick bieten können.
Tabea schluckte.
Aber noch ehe sie etwas herausbringen konnte, sagte der Cherub: »Der Kristall.« Seine Stimme klang näselnd, metallisch, unsäglich überlegen.
Tabea sträubten sich sofort die Nackenhaare. »Hast du etwa mitgehört?«, wollte sie wissen.
Der Cherub schien auf seine Art mit den Achseln zu zucken und ließ seinen großen Kopf hin und her pendeln, als sei der zu schwer für den dünnen Hals. »Nein« , sagte er im gedehnten Tonfall eines Erwachsenen, der geduldig zu einem begriffsstutzigen Kind spricht.
»Dann …«
»Es konnte sich nur um die Zwillinge oder den Kristall handeln« , sagte Xtaska. »Alles andere wäre nicht so wichtig gewesen.«
Nicht so wichtig, dass sie sich zu ihm herbemüht hätte, meinte der Cherub. Tabea begriff und wusste, dass er wusste, dass sie
begriff. Diese unerbittlichen Bremslichtäugelchen konnten außerordentlich beredt sein. Aber wieso die Zwillinge?, dachte sie.
»Die Zwillinge sind doch Menschen, oder?« , fragte der Cherub, als sei er auf Tabeas Antwort gespannt. Und als er keine bekam, fuhr er fort: »Und zu mir würdest du doch nicht mit einem menschlichen Problem kommen. Bleibt also nur der Kristall.«
Tabea schlug das Herz bis zum Hals. Sie wusste nicht, ob aus Wut oder Furcht. »Ich komme da nicht dran«, sagte sie. »Ich hab noch nie …« Sie holte tief Luft. »Könntest du mir zeigen, wie ich an den Kristall komme?«
Er rollte sich auf den Bauch. »Wenn du willst, dann kümmere ich mich um den Kristall.«
»Du brauchst mir nur zu zeigen, wie ich drankomme.«
»Was ich kann, das kannst du noch lange nicht.«
Tabea hätte ihm am liebsten die Meinung gesagt. »Du könntest es mir zeigen.«
»Du bist zu groß dafür.«
Ohne noch ein Wort zu verlieren, schlüpfte Xtaska davon, schwamm ins Schiff zurück und tauchte einen Moment später wieder auf. Sie trug einen Schwanz, der mit einer Mikro-Kristallgittersonde bestückt war, und ging jeder weiteren Diskussion aus dem Weg. Stattdessen schwamm sie schnurstracks zum richtigen Wartungsluk.
»Alice, öffne bitte die …«
Doch die Alice tat es bereits. Mit einem Schlenker seines Kaulquappenendes verschwand der Cherub in der Öffnung.
Missmutig und neugierig, wie sie war, düste Tabea sich hinüber.
Xtaska hatte recht. Der Kriechgang war gerade so weit, dass eine G7-Reparaturdrohne hindurchpasste. Hilflos steckte sie den Kopf in das Luk und blickte in eine derartige Schwärze, dass sie minutenlang nicht mal den Cherub ausmachen konnte. Dann wurde sie einer pulsierenden blauen Strahlung gewahr und einer
winzigen zusammengekauerten Silhouette. Die Gestalt sah aus wie ein Aasfresser, der sich in die Eingeweide ihres Schiffes gestohlen hatte, wie eine dieser gürteltierartigen Raumratten von Palernia.
Der blaue Schein erlosch. Ihr Helm übertrug die widerwärtige Vibration der Kristallsonde auf die Zahnnerven.
Sie wurde hier nicht gebraucht.
»Ich lass dich dann allein damit«, sagte sie.
Die Antwort blieb aus.
Gedankenverloren kehrte sie durch die hintere Steuerbordschleuse ins Schiff zurück. Marco und die anderen waren im Frachtraum und sangen.
Nicht alle. Mogul war in ihrer Kabine.
Nach dem ersten Schock warf sie wütend den Helm auf die Pritsche. »Was hast du hier verloren?«, wollte sie wissen und zog die Handschuhe aus.
Der Akrobat glitt graziös auf sie zu und öffnete mit ungewohnter Ergebenheit die Hände, als wolle er sich erklären. Seine Hände waren leer.
»Tabea«, sagte er.
Seine schmalen Lippen blieben getrennt, die schweren Augen flehten. Doch er blieb auf Distanz, auf den Zehenspitzen, mit jeder Faser seines schlanken Körpers nach ihr verlangend, sich zurückhaltend, innehaltend.
»Ich habe nichts davon gesagt, dass du hier reindarfst«, sagte sie unverblümt.
Sie forderte ihn nicht zum Gehen auf. Sie hörte selbst, wie falsch ihre Worte klangen.
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