Sternenfaust - 055 - Krieg in der Hohlwelt (1 of 2)
wohl eher, dass es in diesem Fall sinnvoller ist, gemeinsam in die Tiefe zu stürzen.«
Es beruhigte Kanturiol, dass Odira allmählich wieder zu ihrer gewohnten Ironie zurückgefunden hatte.
Anfangs kamen sie nur langsam vorwärts, da sich auch Kanturiol erst an die luftige Höhe, das Schwanken und Nachgeben der Lianenbrücke bei jedem einzelnen Schritt gewöhnen musste. Im Grund bestanden die Brücken über die weitaus größten Strecken lediglich aus drei Seilsträngen, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen durch dünnere Lianen miteinander verbunden waren. Diese drei Stränge bildeten von vorne gesehen ein auf der Spitze stehendes Dreieck, wobei sie auf dem zum dicksten Teilstück der Brücke, einem aus mehreren Lianen geflochtenen Strang standen und die beiden darüber angeordneten in der Art eines Geländers benutzten. Sie taten gut daran, sie nicht mit einem starren Geländer zu verwechseln, sondern lediglich als eine Balancierhilfe zu benutzen.
Schon bevor sie den ersten der luftigen Wege betraten, hatten sie aus der Ferne einige Familienverbände der heiligen Affen beobachten können, wie sie über die Konstruktion turnten. Dagegen war ihr Vorankommen ähnlich dem einer giftigen Trägschnecke. Einem Tier, das sich seine gemächliche Geschwindigkeit leisten konnte, da allein der Gestank, den es absonderte, jeden möglichen Feind auf Abstand hielt. Bis auf einen. Das Körpergift dieser Schnecke eignete sich hervorragend zum Einreiben der Spitzen von Armbrustbolzen. Theoretisch, praktisch musste man es erst einmal gewinnen, ohne sich dabei selbst zu vergiften. Deshalb wurde dieses Können und das damit verbundene Geheimnis in den Familien der Schneckenfänger eifersüchtig gehütet. Das von ihnen verkaufte Pfeilgift war in Kriegszeiten wertvoller als Nimbalsteine, die nur an den beiden Enden der Welt vorkamen, dort unter Lebensgefahr geborgen werden konnten, da der Sog Rrres, des Alleserleuchters, dort jeden von den Füßen riss und ins Antlitz Gottes stürzen ließ. Diese Kette an Assoziationen raste Odira durch den Kopf, während sie über die Seilbrücke balancierte.
Die heiligen Affen tanzten regelrecht über ihre Brücken, huschten derart leichtfüßig und schnell über die Lianenstränge hinweg, dass es aussah, als würden sie fliegen, wobei ihre Umrisse zu undeutlichen Konturen verwischten.
Doch mit der Zeit gewann sogar Odira an Sicherheit und letztlich brachten sie die Entfernung zu den hoch aufragenden Türmen der Tempelanlage deutlich schneller hinter sich, als wenn sie sich am Boden durch den Dschungel geschlagen hätten. Selbst wenn es dort nicht vor feindlichen Patrouillen gewimmelt hätte.
»Wir sollten den Brücken nicht bis unmittelbar zu den Türmen folgen …«, sagte sie und zog leicht an der Leine, die sie mit Kanturiol verband.
»Du hast recht«, erwiderte er, »die Priester könnten es als Frevel empfinden, wenn wir auf dem gleichen Weg in den Tempel kommen wie die heiligen Affen.« Er wies auf einen hohen Baum vor ihnen. »Wenn wir dort absteigen, sind wir so nahe wie möglich herangekommen …«
Odira nickte. Auf dem letzten Stück ihres Wegs auf den schwankenden Seilen war sie zunehmend schweigsamer geworden und auch Kanturiol hatte nichts gesagt. Jeder Schritt und jeder Griff hatte ihre ganze Konzentration erfordert. Sie erreichten den Urwaldriesen und kletterten an ihm hinab. Das niedergetrampelte Gestrüpp des Unterholzes zeigte, dass dieser Teil des Dschungels immer wieder von anderen Lebewesen passiert wurde.
»Ob Schaschellons Patrouillen schon bis hierhin vorgedrungen sind?«, flüsterte Odira.
Kanturiol zuckte mit den Schultern. »Kann sein, aber ich glaube eher, dass Gruppen der kazanischen Wachmannschaft hier regelmäßig vorbeikommen. Wir befinden uns ja längst auf neutralem Boden. Außerdem …« Er verstummte plötzlich.
Ein leises Geräusch ertönte. Es klang, als zische ihnen jemand zweimal kurz hintereinander etwas Unverständliches zu. Nahezu zeitgleich hörte er einen dumpfen Laut direkt neben seinem Ohr. Obwohl dieses Geräusch aus schon geringer Entfernung kaum noch zu hören gewesen wäre, zuckte Kanturiol zusammen. Das Geräusch war von einem kurzen heftigen Luftzug begleitet gewesen.
Auch ohne den Kopf zu wenden, wusste er, dass sich keine Handbreit von seinem Ohr entfernt ein Armbrustbolzen in das Holz des Baumes gebohrt hatte. Ein flüchtiger Blick zur Seite überzeugte ihn davon, dass auch neben Odira ein Bolzen tief in das Holz
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