Sternenfaust - 101 - Der Weltraumfriedhof (2 of 2)
»Ich habe William Blake zitiert. ›Tiger, Tiger, hell entfacht, in den Waldungen der Nacht. Welches Gottes Aug und Hand wohl dein entsetzlich Gleichmaß band?‹«
Jake nickte. Das war es gewesen, genau das. Abermals wandte er seinen Blick zu dem großen Frontbildschirm, der im vorderen Bereich der Zentrale schwebte und das Trümmerfeld zeigte. Ein stummes Rätsel in den Tiefen des Weltraums.
Beziehungsweise in den Waldungen der Nacht , dachte er und strich sich gedankenverloren über das Kinn.
»Admiral«, unterbrach Joelle Sobritzkys Stimme seine Überlegungen, und wie immer, wenn Joelle sprach, bemerkte Austen, dass Max neben ihm heimlich den Kopf hob und in ihre Richtung blickte. Mann, Mann, der ist vielleicht verknallt , schoss es Jake durch den Kopf und er unterdrückte ein Lächeln. Nur schade, dass sie es nicht merkt.
»Was gibt es, Lieutenant?«, sagte Taglieri und trat neben die Navigatorin.
»Sir, wir haben jetzt die Position aller in Sensorreichweite befindlichen Trümmerteile bestimmt. Zwischen ihnen allen bestehen Abstände von mindestens einem Kilometer, die Wrackteile können also keinerlei eigene Gravitation aufbauen. Wenn wir es möchten, könnten wir zwischen ihnen hindurchfliegen.«
Taglieri nickte. »Das habe ich bereits vermutet, Lieutenant. Und dennoch halten wir unsere Position hier am Rand des Geschehens. Wir schicken stattdessen einige Jäger-Spähtrupps auf Erkundungsflug. Manchmal ist es besser, sich nicht zu weit in die Höhle des Löwen vorzuwagen. Zumindest, so lange man sich nicht absolut sicher sein kann, dass der Löwe nicht zu Hause ist.«
Oder der Tiger , dachte Jake und warf Max einen wissenden Blick zu. Und ungeachtet ihrer Situation mussten beide Männer grinsen.
*
Morten Jackville lachte leise auf, als er aus der Frontscheibe des Jägers, den er und Emma Kalani durch das Trümmerfeld steuerten, blickte. »Da versauert man tagelang fast vor Langeweile, und dann passiert so was«, murmelte er nahezu ungläubig. »Schiffswracks, so weit das Auge reicht. Und keinerlei Anzeichen für das, was mit ihnen geschehen ist.«
Kalani nickte und umfasste ihren Steuerknüppel fester. Gekonnt navigierte sie den kleinen Jäger zwischen den Wracks hindurch, und nach jeder Kurve, die sie schlug, eröffneten sich ihr und ihrem Co-Piloten neue und nicht minder atemberaubende Anblicke. Es war schon etwas Besonderes, inmitten dieser Relikte umherzufliegen.
Emma hatte keilförmige Starr-Schiffe gesehen, tellerförmige J’ebeem-Frachter, ja selbst kristallin schimmernde Schiffe der Basiru-Aluun trieben hier herren- und orientierungslos durchs Vakuum. Kugelförmige Kridan-Raumer schwebten neben Mantiden-Schiffen, hier erinnerte eine Trümmerstelle an die Morax, dort an die Sharaan. Eine seltsame Mischung, die irgendwie keinen Sinn ergab. Zumindest keinen, der sich ihr bisher erschlossen hätte.
Und dann waren da die Schiffe, die nicht hatten identifiziert werden können.
So weit Emma Kalani und Morten Jackville es bisher beurteilen konnten – und die Aussagen der restlichen Piloten ihrer Einheit, die wie sie auf Erkundungsflug und ihnen per Funk zugeschaltet waren, bestätigten die Annahme – waren etwa sechzig Prozent der hier versammelten Schiffswracks außerirdischen Ursprungs. Und damit meinte sie nicht die Sternenvölker, denen die Menschheit in ihren Jahrhunderten der Raumfahrt bereits begegnet war!
Über die Hälfte dieser Schiffstypen war den Menschen von der STERNENFAUST absolut unbekannt!
Emma sah Schiffe aller nur denkbaren Formen und Farben. Manche waren dunkel wie der sie umgebende Hintergrund der ewigen Nacht, andere schimmerten metallen im Licht der Suchscheinwerfer ihres Jägers. Manche waren kubisch, andere rund. Manche waren Hunderte von Metern hoch und doppelt so breit, andere kaum so groß wie ihr Jäger. Manche hatten Formen, die die junge Hawaiianerin noch nie gesehen hatte. Winkel, die es – so absurd das auch klang – in einem euklidischen Weltbild gar nicht geben durfte.
Und doch waren sie da. So deutlich und unbestreitbar präsent wie Morten Jackville, der hinter ihr saß und ihr vor lauter ehrfurchtsvollem Staunen unangenehm in den Nacken atmete.
»Unglaublich, oder?«, fragte er leise. »Es ist, als hätten wir hundert Erstkontaktsituationen auf einmal. Nur mit dem Unterschied, dass keiner mehr zu Hause ist, dem wir Hallo sagen könnten.«
Sie nickte und sah ein weiteres Mal auf die Konsolen vor sich. Nach wie vor erfassten ihre Sensoren
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